Journal21.ch ist am 10. September 2010 aufs Netz gegangen. Seit dem ersten Tag schreibt der Orientalist Arnold Hottinger regelmässig für unsere Internetzeitung.
Zuvor war er über dreissig Jahre lang Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Beirut, Madrid und Nikosia. Hottinger gehört auch heute, mit 90 Jahren, zu den weltbesten Analytikern der Ereignisse in der islamischen Welt.
Seine Bücher zum Nahen und Mittleren Osten, der islamischen und arabischen Welt gelten als Standardwerke.
Aus Anlass seines Geburtstags hat Ignaz Staub, Mitglied des Leitungsteams von Journal21.ch und früher Nahost-Korrespondent für den Tages-Anzeiger, die folgende – hier gekürzt wiedergegebene – Laudatio verfasst.
Über Arnold Hottinger
Nahost-Korrespondenten sind nach wie vor gefragte Fachkräfte. Unlängst suchte die „Los Angeles Times“ per Inserat einen neuen Vertreter dieser Spezies. Der erfahrene Posteninhaber hatte, Zeichen der Zeit, nach elf Jahren Berichterstattung aus der Region zum Internet-Portal BuzzFeed gewechselt. Das Blatt suchte also einen gewieften Nahost-Korrespondenten, der „sowohl unsere Berichterstattung der aktuellen Konflikte im Irak und in Syrien verankert als auch die turbulente Entwicklung der Demokratie in Ägypten, Nordafrika und am Golf beobachtet.“ – Soweit, so gut.
Nun aber schwang sich der Texter in ungeahnte rhetorische Höhen empor: „Aber mehr als das: Wir suchen einen versierten Schreiber, der fähig ist, in diese uralten und faszinierenden Kulturen einzutauchen, ihre fesselnde Vielfalt, ihre tiefgründige Geistesgeschichte, ihre turbulenten sozialen Umwälzungen sowie – von den Aufständischen des IS bis hin zu alteingesessenen Diktatoren – ihre Neigung zu brutaler Gewalt einzufangen.“
Erfolgreich, versprach die „LA Times“, werde jener Kandidat sein, „der das Büro meidet und sich auf Nebenwege wagt; der es anderen überlässt, das tägliche Chaos aufzuarbeiten und uns Geschichten zurückbringt, die wir nicht vergessen können.“
Die Reaktion auf die Anzeige erfolgte rasch und heftig. An einer Stelle hiess es, Edward Said, der das Phänomen des Orientalismus thematisiert hat, würde sich angesichts solcher Formulierungen im Gab umdrehen. Für die „Los Angeles Times“ als Nahost-Korrespondent zu arbeiten, hiess es an anderer Stelle, lese sich wie der Plot eines Films. Das Problem? Der Streifen erinnere an Walt Disneys Trickfilm „Aladdin“, der auf einer Erzählung aus „Tausendundeine Nacht“ beruht und im fiktiven Agrabah spielt.
In jenem Sultanat, das etliche Amerikaner gemäss einer Umfrage von Public Policy Polling im letzten Dezember bombardieren würden, falls sie die Wahl hätten. Was wiederum an das Diktum erinnert, wonach Kriege Gottes Methode sind, Amerikanern Geografie beizubringen. „Where’s Islam?“, fragte vor dem Golfkrieg von 1991 im Radio der Hörer einer Call-in Show: „Is it between Iraq and Iran?“
Laut Sarah Moawad, die in Amerika geboren wurde, aber in Saudi-Arabien aufwuchs, ist die Anzeige der „LA Times“ Ausdruck eines viel tieferen Problems: „Sie unterstreicht den anhaltenden Trend zu intellektueller und journalistischer Trägheit, sobald es um den Nahen Osten geht. Sie steht auch für die (vielleicht unbewusste, aber tief sitzende) Überzeugung, dass die Region ein geheimnisvoller, fremdartiger Monolith ist, wo die Zeit stehen geblieben ist, eine Region mit einer seltsamen, unentzifferbaren Schrift und einer Neigung zu brutaler Gewalt.“
Der Nahe Osten, fordert die Autorin, brauche Journalisten, die bessere Fragen stellen, solidere (nicht-orientalistische) Rahmen machen und nuancierter denken würden: „Vor allem wohl brauchen wir Journalisten, die zuhören, die sich nicht nur ‚auf Nebenwege begeben‘, sondern dort leben, auf ihnen Fussball spielen, ihr Essen geniessen und ihre Mundart lernen.“
Arnold Hottinger ist einer jener Nahost-Korrespondenten, der mutmasslich mit Ausnahme des Fussballspielens alle geforderten Kriterien erfüllt. Der die lokale Sprache spricht, den Leuten aufs Maul schaut, der wie die Einheimischen reist und lieber in Karawansereien absteigt als in Luxusherbergen. Das Einzige, was einem grossen Journalisten wie Arnold Hottinger fehlt, ist ein massives Ego.
Arnold Hottinger gehört nicht zur Spezies der „Hotel Warriors“, jener Hotelkrieger, die „Wall Street“-Reporter John J. Fialka am Beispiel des ersten Golfkrieges beschreibt, als die Korrespondenten, unfreiwillig, in Fünf-Sterne-Häusern in Riad oder Dahran vor dem Fernseher sassen, weitab vom Schuss und weitab vom Verständnis des Geschehens.
Arnold Hottinger ist ein Insider erster Güte in Sachen Naher Osten. Er reiste im Frühjahr 1955 erstmals, per Schiff, nach Beirut und bezog mit seiner Frau in der „Pension Europe“ am Rande des Hafengeländes Quartier. Der Philologe, der an der Universität Zürich über altspanisch-arabische Übersetzungskunst doktoriert hatte, wollte nach dem Studium des klassischen Arabisch noch die gesprochene Sprache erlernen – ein Vorhaben, das er während eines Winters im Bergdorf Bikfaya in einem maronitischen Kloster verwirklichte.
1958, nach einem kurzen Volontariat auf der Redaktion, begann Arnold Hottinger aus der libanesischen Hauptstadt für die NZZ zu berichten – gerade rechtzeitig, um über die Anfänge des ersten libanesischen Bürgerkriegs zwischen Maroniten und Muslimen informieren zu können, ein Konflikt, der US-Präsident Dwight Eisenhower ein 14‘000 Mann starkes Truppenkontingent in den Libanon entsenden liess, um Beiruts Hafen und Airport zu sichern.
In seinen 2004 erschienenen Memoiren „Islamische Welt“ beschreibt Arnold Hottinger plastisch die aufgeheizte Atmosphäre jener Tage: „Ich sah aufgeregte Milizionäre der Phalange-Partei in einer Art Pfadfinderuniform, doch mit schweren Revolvern in den Händen, den Häusern entlang von Tornische zu Tornische springen und Schüsse auf die Dächer und Fenster der Hauptstrassen in der Nähe des Hafenviertels abgeben, während der Fussgänger- und Autoverkehr noch normal ablief, sich dann allerdings rasch verkrümelte, als die Ladenbesitzer mit lautem Krachen die Metallläden vor ihren Schaufenstern und Geschäftseingängen hinabschmetterten.“
58 Jahre später berichtet Arnold Hottinger noch immer über den Nahen Osten, kompetent und kenntnisreich wie eh und je, einfach nicht mehr für die NZZ, sondern seit sechs Jahren nun fürs „Journal21“. Jene mindestens zehn Jahre, die ein Nahost-Korrespondent seiner Meinung nach braucht, um die Region zu begreifen, hat er mehrfach überdauert. Er schreibt längst nicht mehr auf der Schreibmaschine oder am Telex, sondern am PC oder auf dem Laptop. Und unnötig die Ermahnung der Vorgesetzten seinerzeit auf der NZZ-Redaktion, teure Telegramme nur im Falle von Kriegen oder Revolutionen abzusetzen.
Nahost-Korrespondenten arbeiten heute nicht mehr so wie zu Arnold Hottingers Zeiten. Als Schnelligkeit zwar wünschbar, aber nicht unverzichtbar war, als genaues Hinsehen mehr zählte als clevere Aggregation, als der Leser wichtiger war als der eigene Brand.
Und noch ergoss sich über Berichterstatter nicht jene Informationsflut, wie sie es heute auf zahlreichen Kanälen und über Soziale Medien ungefiltert tut – autoritären Regimen und staatlich kontrollierten Medien zum Trotz. Zu Arnold Hottingers Zeiten im Nahen Osten glich Journalismus noch dem geduldigen Zusammensetzen eines Puzzles. Es dauerte jeweils, bis aus vielen Einzelteilen ein Gesamtbild – „the big picture“ – entstand.
Der Tübinger Islamwissenschaftler Heinz Halm hat in der „Zeit“ Arnold Hottingers Arbeitsweise treffend beschrieben. Dessen scharfer Blick gelte immer wieder der „Rückseite des Teppichs“: „dem hinter der Fassade der Institutionen (…), aber auch hinter dem islamischen Muster verborgenen Gewebe von Patronage und Klientel, von persönlicher Autorität und loyalem Gefolge, das in fast allen nahöstlichen Ländern das eigentliche Geschehen bestimmt.“
Statt sich von Propagandisten desinformieren zu lassen, galt es für Arnold Hottinger, unermüdlich unterwegs zu sein, zu Fuss, per Sammeltaxi oder im Bus, und unvoreingenommen mit Leuten jeglicher Couleur zu reden, diskret zuzuhören, scharf zu beobachten und klar zu analysieren. Die Angelsachsen nennen das zutreffend „shoe-leather reporting“: Ledersohlen-Berichterstattung. Nur zu Fuss, weiss Arnold Hottinger, lassen sich die Dinge wirklich erfahren.
Nicht immer aber goutieren Leser und Vorgesetzte diese Art von im eigentlichen Sinn des Wortes bodenständigem Journalismus. Arnold Hottinger hat das im Fall des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern erfahren, als er 1984 nach Israel und nach Cisjordanien reiste, wo er am Beispiel eines Menschenmarktes beschrieb, wie es auf der arabischen Seite aussah. Es wurden, zu Unrecht, Vorwürfe laut, der NZZ-Korrespondent sei ein Antisemit.
Was Kurt Kister über Arnold Hottingers Freund und Kollegen Rudolph Chimelli von der „Süddeutschen Zeitung“ im Vorwort zum letztem Buch des SZ-Nahost-Korrespondenten schreibt, gilt ebenso für unseren Jubilar. Er ist einer jener raren Auslandskorrespondenten, „die für ihre Leserschaft über Jahrzehnte hinweg das Bild einer Region, eines Kulturkreises, vielleicht nicht bestimmt, aber dennoch mitgeprägt haben.“
Arnold Hottinger gehört zur aussterbenden Spezies des „roving reporter“, zu jener Art Journalisten, die reisen, um Neuland zu entdecken, und dafür Risiken und Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen – der Sache, aber nicht des Egos willen. Im Übrigen lassen Redaktionsbudgets heute Extravaganz dieser Natur nur noch selten zu.
Wäre Arnold Hottinger früher zur Welt gekommen, er hätte sich in den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wohl gerne dem Briten Wilfred Thesiger angeschlossen, als der mit einer Schar treuer Beduinen das Rub‘ al Khali, die riesige Sandwüste im Süden der Arabischen Halbinsel, durchquerte. Sir Wilfred, „der Reinste der Reisenden“, wie Paul Autor Theroux ihn nennt, kehrte erst wenige Jahre vor seinem Tod aus der Fremde in die Heimat zurück – aus Kenia, wo er in einer Hütte, ohne Strom und Wasser, unter den Turkana und Samburu gelebt hatte. „Je härter das Leben, desto nobler die Menschen“, pflegte der asketische Abenteurer zu sagen.
Zum Glück ist Arnold Hottinger nach seiner Zeit im Orient mit Sitz in Beirut, Madrid und Nikosia nicht in einer Hütte in Afrika, sondern in Zug bei Ingrid Hörsch gelandet – 66 Jahre nach seinem ersten Abstecher in den arabischen Raum, nach Tunis. Wo ihn, wie er sich erinnert, die Fremdheit des Ortes überwältigte: „Sie verfolgte mich noch jahrelang im Traum. Nacht für Nacht verirrte ich mich im Basar von Tunis, in all diesen Farben, diesen Gerüchen, und fand nicht mehr heraus.“
Er habe sich seinerzeit, sagt Arnold Hottinger in einem Interview mit der NZZ, gegen eine akademische Karriere entschieden, obwohl er in Los Angeles eine Professur in Aussicht hatte. Doch Kalifornien sei ihm zu weit weg von Arabien gewesen und er habe keinen Büro-Job gewollt: „Das Leben im Nahen Osten hat mich mehr interessiert als die Geschichte oder die Philologie.“ Er habe nie die Illusion, irgendetwas verändern zu können. Hingegen suche er zu verstehen und natürlich auch zu erklären.
Aus dem orientalischen Basar hat Arnold Hottinger längst herausgefunden, auch wenn ihn das angesichts der aktuellen Ereignisse im Nahen Osten – denken wir an die Kämpfe in Aleppo, in Mossul oder im Jemen – kaum trösten dürfte. Kein Trost auch, dass in der arabischen Welt der Graben zwischen globalisierten Oberschichten und abgehängten Unterschichten immer grösser geworden ist – ein sozialer Graben, den Arnold Hottinger neben dem Klimawandel längerfristig als eigentliches Problem der Region sieht.
Obwohl er nicht optimistisch ist, was die Zukunft des Nahen Ostens betrifft: Arnold Hottinger würde, hätte er die Wahl, erneut Korrespondent werden wollen, nach wie vor am liebsten für eine gedruckte Zeitung – „tote Bäume“, wie fortschrittsgläubige Zeitgenossen sagen. Oder zur Not auch für ein Internet-Portal!