Herr Oberle, der Club of Rome hat für das Jahr 2030 den ökologischen Kollaps prophezeit. Glauben Sie auch daran?
Der Club of Rome hat sich oft in den zeitlichen Prognosen getäuscht. Es geht alles langsamer als von ihm angenommen. Aber ein Kollaps ist denkbar, denn ungefähr seit Mitte der 80er-Jahre verbraucht die Menschheit mehr Ressourcen als der Planet zur Verfügung stellt. Es ist nicht mehr fünf vor zwölf. Es ist nach Ladenschluss, fünf nach zwölf. Die Polizeistunde ist abgelaufen, und wir stehen noch immer auf der Strasse und fragen uns, ob wir jetzt ins Bett gehen müssen oder nicht. Das heisst aber noch nicht, dass wir verloren haben. Wir müssen uns jetzt klug und entschlossen verhalten.
Wir müssen vor allem gegen die Erderwärmung vorgehen. Diese entsteht durch den Ausstoss von zu viel CO2-Treibhausgasen. Der Bundesrat hat vorgegeben, die Treibhausgase radikal zu reduzieren. Kann dieses Ziel erreicht werden?
Der Bundesrat möchte, dass bis im Jahr 2020 der CO2-Ausstoss um 20 oder gar 30 Prozent gedrosselt wird (ausgehend vom Stand 1990). In ihrer Botschaft hat die Landesregierung detailliert dargelegt, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Die Regierung hat sich folgende Fragen gestellt: Bricht bei weniger CO2-Ausstoss das Wachstum ein; gehen Arbeitsplätze verloren; muss teurer produziert werden; stimmt die Kosten-Nutzen-Rechnung nicht mehr; gibt es technische Probleme bei der Umsetzung?
All diese Fragen wurden detailliert mit „nein“ beantwortet. Eine massive Reduktion von CO2 ist also ohne wirtschaftliche Einbussen möglich und technisch machbar. Deshalb ist die Antwort eindeutig: Ja, die Schweiz wird das bundesrätliche Ziel erreichen und ihre Emissionen bis 2020 um 20 oder 30 Prozent senken.
Laut einer UNO-Studie werden in zwanzig Jahren neun Milliarden Menschen auf der Erde leben. Alle stossen CO2 aus, alle produzieren Abfall. Ist das nicht verheerend für die Umweltbelastung?
Das Ganze ist eine Milchbüchleinrechnung. Erstens nimmt die Zahl der Bevölkerung zu, zweitens konsumiert sie immer mehr und drittens belastet sie immer mehr die Umwelt. Die ersten zwei Faktoren können oder wollen wir nicht beeinflussen, nämlich das ungebremste Bevölkerungswachstum und den wachsenden Konsum. Ein Konsumrückgang wäre im Westen systemwidrig – und in den Entwicklungsländern wäre er unfair.
Es ist verständlich, dass die aufstrebenden Bevölkerungen in Asien und Südamerika dorthin gelangen wollen, wo wir jetzt schon sind. Der Konsum pro Kopf wird also weltweit weiter steigen.
Aber etwas können wir tun. Wir können Produktionsmethoden finden, die die Umwelt weniger belasten. Wir müssen unsere natürlichen Ressourcen effizienter einsetzen. Es ist ein Wettrennen zwischen – einerseits – Bevölkerungswachstum und Konsumzunahme und – anderseits – Intelligenz und Klugheit der Technik. Wir brauchen eine neue industrielle Revolution, eine „grüne Wirtschaft“ muss entstehen.
Wie soll diese Revolution aussehen?
Die Erdölbestände neigen sich dem Ende zu. Auch verschiedene andere Rohstoffe drohen knapp zu werden. Wir spüren das bereits. Selbst Nahrungsmittel könnten rar werden. Die Frage ist jetzt: Wollen wir rechtzeitig reagieren oder wollen wir gegen die Wand rennen und uns die Nase blutig machen?
Es gibt Hoffnung. Denn wenn die Ressourcen rar werden, wird der Preis steigen. Unternehmen also, die ökonomisch mit den Rohmaterialien umgehen, werden im Vorteil sein. Der Druck, intelligent mit weniger Rohstoffen zu produzieren, nimmt also zu.
Weil die Preise für Rohstoffe steigen und weil die Unternehmen ökonomisch produzieren müssen, werden sich alle Konsumbereiche nach effizienten Technologien umschauen. Die Entwicklung dieser neuen Technologien – das ist ein Riesengeschäft. Gemäss Schätzungen hat der Weltmarkt für Umwelttechnologien bereits 2005 ein Gesamtvolumen von tausend Milliarden Euro pro Jahr erreicht. Das ist mehr als der gesamte Pharma-Markt. Und der Markt für Umwelttechnologien gehört zu den am schnellsten wachsenden Märkten. Die Jobs der Zukunft werden sehr wohl noch beim Banking oder in der chemischen Industrie angesiedelt sein. Aber vor allem werden Arbeitskräfte im Bereich der neuen neuen, grünen Technologien entstehen.
Wird die Schweiz davon profitieren?
In der Schweiz haben wir das Know-how. Wir sind technologisch hoch entwickelt und haben eine Bevölkerung, die in Umweltfragen sensibilisiert ist. Wir sind eine globale Handelsnation. Wir haben Ideen, wie man effizient und sauber produzieren kann. Es ist durchaus denkbar, dass wir uns von dieser neuen industriellen Revolution ein grosses Stück vom Kuchen abschneiden können. Wir müssen aber entschieden handeln: informieren, regulieren und investieren sind die Schlüsselwörter der sich abzeichnenden industriellen Revolution.
Geben Sie uns ein Beispiel für umweltgerechte Technologie
Zwischendecken in Häusern bestehen meist aus schwerem armiertem Beton. Eine Schweizer Firma versenkt jetzt in diesem Beton eine Art Fussbälle. So entstehen Hohlräume, die isolieren. Die Decke wird leichter, die Stabilität ist nicht in Frage gestellt und auch die Stützmauern können leichter sein. So spart man 40 Prozent des Betons.
Oder: Man spritzt in eine Gips- oder Betonwand eine Substanz, die am Tag Wärme aufnimmt. So bleibt der Raum angenehm kühl. Abends, wenn es draussen kühl wird, gibt sie Wärme ab. So spart man Heizung. Das ist Köpfchen.
Sie fordern eine so genannte Kreislaufwirtschaft, d.h.: alles soll rezykliert werden. Wird ein Haus abgebrochen, soll man aus dem Bauschutt ein neues bauen. Kann man alles rezyklieren, alles wieder gebrauchen?
Bisher haben wir einzelnegrobe Teile aus dem Abfall sortiert: Pet-Flaschen, Glas, Eisen, Papier. Jetzt beginnt eine neue revolutionäre Phase der Abfallbewirtschaftung. Jetzt nämlich fangen wir an, aus den Rückständen der Kehrichtver¬brennungs¬anlagen Metalle wie Eisen, Kupfer und Aluminium zurück zu gewinnen. Diese werden dann wieder in den Produktionsprozess eingeschleust. So entsteht eine Kreislaufwirtschaft.
Im Elektronikschrott finden sich die so genannte Gewürzmetalle. Ziel ist es, mit geeigneten Techniken diese der Wirtschaft wieder zuzuführen. Man stelle sich vor: Man hat eine bestimmte Anzahl von Lego-Steinen. Mit diesen Grund¬bau-steinen stellt man immer neue Produkte her: einmal ist es ein Haus, einmal ein Auto, einmal ein Liegestuhl.
Können auch chemische Elemente rezykliert werden?
Ja, zum Beispiel Phosphor. Dieses ist unabdingbar für die pflanzliche Produktion: ohne Phosphor kein Wachstum. Doch die Phosphor-Lagerstätten, z.B. in der von Marokko beanspruchten Westsahara, sind endlich und die Qualität des Rohphosphats wird schlechter. Phosphor ist in den Pflanzen eingebaut, in unserem Essen, im Fleisch, in uns selbst. Phosphor geht also nicht verloren.Er steht aber dann nicht mehr als Dünger zur Verfügung. Heute werden Technologien entwickelt, die es ermöglichen, Phosphor aus Klärschlamm und Abwasser zurück zu gewinnen. Somit kann er der pflanzlichen Produktion als Dünger wieder zur Verfügung gestellt werden. Auch da: Kreislaufwirtschaft.
Vor allem die Industrieländer haben das Klima und die Umwelt beschädigt. Jetzt verlangen wir von den Entwicklungsländern, dass sie sich weitsichtiger verhalten als wir es taten. Doch die wollen produzieren, die Armut beseitigen. Die denken nicht an das Klima in 30 Jahren.
Es gehört zu unserem westlichen Verständnis, dass jeder Mensch gleich ist. Das sagt unsere Religion, das sagt die Deklaration der Menschenrechte der Französischen Revolution. Dieses Verständnis liegt in unseren Genen. Dann müssen wir auch akzeptieren, dass jeder Mensch auf dieser Welt die gleichen Ansprüche hat. Es ist verständlich, dass alle dem Glück nachrennen, auch wenn die Gefahr besteht, dass wir uns so gemeinsam ins Unglück stürzen.
Die armen Länder, die weiterkommen und sich entwickeln möchten, werden also mehr konsumieren und mehr CO2 in die Luft stossen als bisher. Das dürfen wir ihnen nicht verübeln. Wir hoffen einfach, dass sie nicht jeden einzelnen Fehler wiederholen, den wir gemacht haben. Deshalb wollen wir ihnen mit unseren Erfahrungen und unseren Technologien helfen.
Nehmen diese Länder denn unsere Hilfe unser Wissen an?
Wir dürfen nicht glauben, dass den aufstrebenden Ländern der Umweltschutz egal ist. So hat China im vergangenen Dezember an der Klimakonferenz in Kopenhagen den ambitiösesten Vorschlag gemacht – im eigenen Interesse. China erfährt heute die Schattenseiten des Wachstums. Die Gewässer sind verschmutzt, wie sie es bei uns in den Fünfzigerjahren waren. Baden kann man nicht mehr.
Es gibt Industrieunfälle à la Schweizerhalle und Seveso. Industrieunfälle sind an der Tagesordnung; in den Gruben werden Kohlearbeiter verschüttet. China weiss, dass es Gegensteuer geben und zum Beispiel Kläranlagen und Abgasfilter einbauen muss. China benutzt unsere Ideen und Technologien und entwickelt sie weiter und ist heute schon der grösste Produzent von Windanlagen. Und Indien hat die ehrgeizigsten Pläne zur Gewinnung von Sonnenenergie. Es will nicht ins gleiche Schlamassel gezogen werden, wie wir es wurden.
Manchmal kriegt man den Eindruck, dass viele Politikern und Bürgerinnen und Bürgern Umweltfragen noch nicht ganz so ernst nehmen. Liegt das daran, dass uns das Wasser noch nicht bis zum Hals steht?
Das war schon immer so. Ein Beispiel: Im vorletzten Jahrhundert gab es in Zürich Cholera-Epidemien. Bis zu sieben Prozent der Bevölkerung starben. Die Politiker - Politikerinnen gab es damals nicht - stritten über die Ursache des Übels und über mögliche Massnahmen. Man debattierte über Schwächung der Menschen infolge schlechter Luft über die Einwanderung als Vehikel für die Krankheit. Nach langen Streitereien führte Arnold Bürkli - der Stadtingenieur von Zürich - das Kübelsystem ein: ein erstes einfaches Entsorgungssystem für Abfall und Abwasser; die Cholera verschwand.
Pasteur bewies erst zwanzig Jahre später, dass Jakob Bürkli recht gehabt hatte. Die Ursache war das ungeklärte Abwasser.
Wenn wir Fehler machen, geschieht zunächst meist nichts. Das System federt die Fehler erst einmal ab. Dann beginnt man den Fehler zu realisieren – später beginnt man ihn sehr stark zu realisieren. Schliesslich beginnt man über die Ursachen zu streiten. Irgendwann wird dann entschieden, und zwanzig Jahre später merkt man, dass der Entscheid richtig war. Ein solcher Zyklus dauert normalerweise zwei Generationen.
Bei der Klima-Frage stehen wir jetzt am Punkt, an dem man die Konsequenzen ernsthaft zu spüren beginnt. Aber die erste Analyse, die aufzeigte, dass die Klimaerwärmung kommen wird, gab es schon vor 50 Jahren. Jetzt haben wir schon Tote in Bangladesh, Pakistan, Russland und anderswo. Auch der Sommer 2003 gab uns einen Vorgeschmack von dem, was kommen wird.
Ende November beginnt im mexikanischen Cancún erneut eine Klimakonferenz. Schon wieder eine, und die Welt wird schmutziger und schmutziger. Ist - so kurz nach dem Scheitern der Kopenhagener Konferenz - ein Fortschritt überhaupt denkbar?
Wer hätte gedacht, dass 1985 Reagan und Gorbatschow zusammentreffen und sagen: Wir verschrotten einen Teil unserer Atomwaffenarsenale. Das hat allen Erfahrungen widersprochen.
Cancún ist eine weitere Etappe. Diskussionen finden während des ganzen Jahres statt, auch nach Cancún. Und weil wir Ergebnisse brauchen, wird irgendwann ein Durchbruch erzielt werden – so, wie ihn Reagan und Gorbatschow erzielten. Kopenhagen war falsch angelegt. Man projizierte sämtliche Probleme der Menschheit in diese Konferenz.
Dass da kein Ergebnis herauskam, war klar. Wir Schweizer sagten: Kopenhagen ist eine böse Niederlage für das UNO-System, eine Blamage für die Dänen – und gut fürs Klima. Denn zum ersten Mal überhaupt war man sich einig, dass sich alle Länder an der Reduktion der Treibhausgase beteiligen müssen - nicht nur jene, die das Kyoto-Protokoll unterzeichnet haben.
Man stelle sich vor: Da kam ein chinesischer Premierminister und sagte: Ich reduziere den CO2-Ausstoss um vierzig Prozent. Oder: Da kam der brasilianische Präsident und erklärte: Ich vertrete zwar ein Entwicklungsland, aber ich lege Geld auf den Tisch, um andern Ländern zu helfen, die Treibhausgase zu vermindern. Hätte man mir das vor vier Jahren prophezeit, hätte ich gesagt: Ich träume. Doch, es tut sich etwas im weltweiten Klimabewusstsein.
Liegt das auch daran, weil George W. Bush und sein Vize, Dick Cheney, gegangen sind. Beide galten ja als arge Bremser in der Klimapolitik und setzten vor allem aufs Erdöl.
Die amerikanische Regierung ist gebunden an die amerikanischen Interessen. Diese werden im Parlament und der Lobby-Tätigkeit artikuliert. Was mich positiv stimmt, ist, dass den Amerikanern ihr eigenes Erdöl langsam ausgeht (abgesehen von Alaska).
Amerika hat realisiert, dass es mit seinen Produkten in der Welt nicht mehr glänzt und dass es sich ändern muss. Ein amerikanisches Auto verkauft sich schlicht und einfach in der Welt nicht mehr; es verbraucht zu viel Benzin. Auf lokaler und regionaler Ebene findet der Wandel aber as bereits statt.
Viele Städte und Gemeinden haben effiziente Umweltprogramme und Vorschriften eingeführt. Der post-österreichische, kalifornische Gouverneur wurde gar von Washington zurückgepfiffen, weil er strenge Vorschriften für Fahrzeuge erlassen will. Man stelle sich das vor. Es tut sich etwas, auch in den USA.
Es ist im Interesse der Amerikaner, vorwärts zu machen. Sonst verlieren sie ihre Stellung als Wirtschaftsmacht. Es ist im Interesse der ganzen Menschheit, dass eine „grüne Wirtschaft“ entsteht, weil wir nur so langfristig Wohlstand und Glück schaffen und erhalten können.