Ein Menschenleben steckt voller Rätsel. Nicht alles Unverstandene und Überfordernde wird von der Umgebung auch wahrgenommen und erkannt. Manches Individuum bleibt im eigenen Lebensdilemma verfangen. Auf einmal ist es Winter, und für Ausbruch, Erneuerung und Lebensfreude schon zu spät. Das «Wintermärchen» bleibt aus.
Ein interessanter Fall diesbezüglich ist die 1958 an der New Yorker Met produzierte Oper des amerikanischen Komponisten Samuel Barber mit dem Titel «Vanessa», ein trotz des Erfolgs der Uraufführung beim Publikum von der professionellen Musikkritik bis heute unterschätztes Werk aus dem Opernrepertoire des 20. Jahrhunderts.
Warten auf wen?
Drei Frauen unterschiedlichen Alters sitzen zusammen, in einem vornehmen Haus irgendwo auf dem Land im winterdunklen Norden. Die Baronesse, eine verbitterte alte Dame, ihre Tochter Vanessa, und Erika, die Enkelin der Baronesse und Nichte von Vanessa. Im Haus ist es düster, alle Spiegel und die Bilder der Wohnräume sind mit Tüchern verhängt, die Stimmung zwischen den drei Frauen ist eisig.
Doch man erwartet noch am späten Abend Besuch. Kommen sollte Anatol, der frühere Geliebte von Vanessa, der sie wegen seiner Ehefrau nach einer heftigen Liebesaffäre vor Jahren verliess. Seither lebt Vanessa mit Mutter und Nichte schmollend und hadernd in der Abgeschiedenheit ihres Landhauses und zelebriert ihre Lebensenttäuschung.
Es kommt aber nicht der ehemalige Liebhaber zurück, sondern dessen Sohn, der wie sein inzwischen verstorbener Vater auch Anatol heisst und wie bereits sein Vater in Liebesdingen ein Draufgänger und Abenteurer ist. Nach der für Vanessa schrecklichen Entdeckung, dass ihr Gast nicht der ersehnte Anatol ist, verführt dieser bereits in der ersten Nacht, in der er im Haus weilt, die unvorsichtige Nichte Erika.
Doch mit der Liebe und der Heirat will es zwischen den beiden nicht recht klappen. Anatol ist zwar bereit, Erika zu heiraten, doch er erklärt ihr, seine Leidenschaft für sie sei keine verlässliche und wohl nur transitorisch, worauf Erika ihrer Liebe zu ihm entsagt und ihn ihrer Tante Vanessa überlässt, «die so lange auf so wenig warten musste».
Vanessa, die an Angst vor dem Altern leidet, verliebt sich denn auch in die jüngere Version ihres verflossenen Anatol. Am Silvesterabend soll die Verlobung zwischen Anatol und Vanessa bekanntgegeben werden. Diese wollen nach Paris ziehen, Vanessa vermacht das Haus ihrer Nichte, diese versichert ihrer Grossmutter, dass das Kind ihrer Liebesnacht mit Anatol nicht zur Welt kommen werde.
Die Oper endet mit der Abreise des seltsam ungleichen Paares. Erika und die Baronesse verbarrikadieren sich im alten Haus. Die Spiegel werden wieder verhängt, die Fensterläden geschlossen, der Park wird für Besucher zugesperrt. Nun heisst es wieder: aussichtslos warten und dem entgangenen Glück nachträumen. Diesmal nicht für Vanessa, sondern für Erika.
Komplexe Frauenbeziehungen
Diese sowohl an Tschechow wie an Strindberg gemahnende Geschichte über aus weiblicher Sicht verpasstes Liebesglück ist den «Seven Gothic Tales» entnommen, welche die dänische Schriftstellerin Karen Blixen 1934 in englischer Sprache unter dem Pseudonym Isak Dinesen publizierte. Das Libretto verfasste der Komponist Gian Carlo Menotti, der in New York und an der Metropolitan Opera in den 50er Jahren sehr angesehen und geschätzt war.
Menotti, der Freund und Lebenspartner von Samuel Barber, war diesem auch behilflich bei der Suche nach geeigneten Sängerinnen für die Partien der weiblichen Hauptfiguren. So bot man offenbar auch der damals im Zenit ihrer Karriere stehenden Maria Callas die Rolle der Vanessa an. Sie lehnte diesen Antrag ab, angeblich mit der Begründung, es sei ihr als Primadonna nicht zuzumuten, dass sie sich in einen Mann verliebe, der zuvor mit der Mezzosopranistin ins Bett gegangen sei. Die Callas wird wohl noch andere Gründe gehabt haben, die Rolle abzulehnen. Sie enthält äusserst virtuose Passagen, die auch für grosse Sängerinnen nicht leicht zu bewältigen sind.
Für die Uraufführung hatte man allerdings ein geradezu ideales Team beisammen: Vanessa wurde von der Amerikanerin Eleanor Steber verkörpert, die den Herausforderungen der Partie nichts schuldig blieb. Die Erika sang Rosalind Elias, die Baronesse Ira Malaniuk, an der Seite des glänzenden Anatol von Nicolai Gedda. Es dirigierte der grosse Dimitri Mitropoulos so erfolgreich, dass Herbert von Karajan die New Yorker Produktion gleich für die Salzburger Festspiele vom Sommer 1958 verpflichtete.
Muss der Winter so früh kommen?
Die Arie, die wie eine Art «mise en abyme» – ein Vorspiel im Spiel – der gesamten Oper betrachtet werden kann, ist nicht eine von Vanessa gesungene, sondern die der jungen Erika aus dem 1. Akt.
Drei Frauen sitzen im verhängten Salon, warten auf den angesagten Besuch, vertreiben sich die Zeit mit der Lektüre griechischer Klassiker. Vanessa wünscht, dass Erika ihr und der Baronesse am Kaminfeuer aus dem Ödipus-Drama vorlese. Erika liest eine Passage so, dass Vanessa auffährt und ihr vorwirft, sie lese so schlecht, weil sie nie im Leben erfahren habe, was Liebe sei. Vanessa macht es vor, wie man das eigene Elend und die Verzweiflung vorzutragen habe.
Erika aber hat es früh erkannt, was ein Leben in Einsamkeit und Abgeschiedenheit sein könnte. Sie blickt durch ein Fenster des Wintergartens hinaus in die Nacht und beginnt ihr Klagelied über ein Leben, in dem kein Glück zu gewärtigen ist:
«Must the winter come so soon? – Muss der Winter kommen, bevor das Leben gelebt und erlebt ist? Nacht um Nacht höre sie, wie hungrige Hirsche wehklagend durch die Wälder zögen. Sie höre, wie aus ihrem spröden Borkenhaus das Heulen einer frierenden Eule zu ihr dringe. In diesem abgeschotteten Wald gebe es weder Sonnenaufgang noch Sonnenuntergang, die das Vergehen der Tage andeuten könnten. Nur langer Winter herrsche hier. «Aber muss der Winter so früh kommen?».
Es ist eine ganz eigene Art von Natur- und Seelenstimmung, für die Barber hier die richtigen Töne fand. Sie bewegen das Innere der Hörenden und sind darum auch die richtigen. Man hat dem Komponisten alles Mögliche angekreidet. Er sei rückwärts schauend, tonal überholt, antimodern, romantisch verklärend.
Diese elenden, sich für avantgardistisch haltenden Tonapostel der Musikkritik! Es haben Barber diese Vorwürfe zum Glück nicht verunsichert. Er ist der ihm eigenen Tonsprache bei der Komposition seiner ersten Oper nicht untreu geworden.
Man achte auch auf die Begleitinstrumente, die Barber für diese melancholische Bilanz einer das Lebensglück vermissenden Seele verwendet. Sie sind schön, so naturnahe wie versöhnend. Eigentlich müsste das Leben doch ein immer neu angesagtes Glück sein.
In einer Produktion aus dem Glyndebourne Opera House des Jahres 2018 sehen und hören wir diese Winterarie der Erika, hier gesungen von Virginie Verrez. Das London Philharmonic Orchestra wird geleitet von Jakub Hrůša.