Anfang Juni musste das englische Expeditionskorps, das den Franzosen zu Hilfe geeilt war, in höchster Not aus Dünkirchen evakuiert werden. Am 14. Juni marschierten die Deutschen in Paris ein. Zwei Wochen später ersuchte die Regierung Pétain Hitler um Waffenstillstand.
Der 10. Mai ist aber auch das Datum, an dem der schärfste und unbeugsamste Gegner Hitlers, Winston Churchill, in Grossbritannien das Amt des Premierministers antrat. Sein Vorgänger Neville Chamberlain hatte, von einer Mehrheit der englischen Bevölkerung darin unterstützt, gehofft, sich mit Hitler verständigen zu können, zuletzt noch im Münchner Abkommen vom September 1938.
Niemand hätte Churchill ersetzen können
Churchill dagegen durchschaute Hitlers Pläne früh und trat mit Nachdruck, aber vergeblich, für Englands militärische Aufrüstung ein. Blickt man aus heutiger Sicht auf den 10. Mai 1940 zurück, muss man sagen: Winston Churchill war der Mann der Stunde, um den Kampf gegen Hitler aufzunehmen. Niemand, so weit man sich auch immer umsieht, hätte ihn damals ersetzen können.
Schon früh erwarb sich Churchill den Ruf aussergewöhnlicher Tapferkeit. Er hatte im englischen Empire, in Indien und im Sudan, gekämpft und im Burenkrieg mit einer spektakulären Flucht aus der Gefangenschaft Aufsehen erregt. In der Folge entwickelte er sich zum erfahrenen, wenn auch nicht immer erfolgreichen Politiker.
Er bildete sich seine Meinungen bemerkenswert unabhängig und vertrat sie mit zuweilen brüskierender Entschiedenheit. Churchill war ein konservativer Patriot mit autoritären Neigungen, blieb aber immer ein überzeugter Demokrat, der seine Entscheide mit dem Kriegskabinett absprach und vor dem Unterhaus begründete. Seine Mission sah er darin, nicht nur England, sondern die Demokratien der Welt gegen Faschismus und Nationalsozialismus zu verteidigen, und er scheute nicht vor einem Zweckbündnis mit Stalin zurück, obwohl er den Kommunismus entschieden ablehnte.
Churchill war eine Rossnatur
Churchills Vitalität, seine Leistungsfähigkeit und Beharrlichkeit erregten das Staunen und die Bewunderung derer, die mit ihm zu tun hatten. Kein anderer Staatsmann seiner Zeit hat sich in eigener Person so intensiv um Strategie und Taktik der Kriegsführung gekümmert und den Vollzug seiner Weisungen so sorgfältig überwacht. Ständig hielt sich Churchill auf dem Laufenden; bei ihm liefen bei Tag und Nacht alle Nachrichten ein, er suchte den Kontakt mit der Bevölkerung, sprach vor Arbeitern in den Rüstungsbetrieben und vor Soldaten an der Front.
Auch legte er grossen Wert auf die persönliche Begegnung mit den Grossen seiner Zeit, mit Roosevelt und Stalin, aber auch mit den Generälen und Oberkommandierenden, und er unternahm gefahrvolle Reisen zu Schiff oder im Flugzeug nach Washington, Moskau, Casablanca, Teheran, Jalta und anderswohin. Churchill war eine Rossnatur: Alkohol und Nikotin schienen ihm, obwohl er beidem fleissig zusprach, nicht zu schaden, und sein gesunder Schlaf erlaubte ihm überall, auf dem Schlachtschiff wie in einer Fliegenden Festung, von den täglichen Strapazen auszuruhen.
Winston Churchill war aber auch ein hervorragender Schriftsteller. Im Jahre 1953 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sein autobiographischer Bericht My Early Life verhilft jedem jugendlichen Leser, der in der Schule Mühe bekundet, zur Hoffnung, es trotzdem noch weit bringen zu können. Seine Biographien über den Vater, den konservativen Politiker Randolph Churchill, und über den berühmten Vorfahren, den Herzog von Marlborough, werden auch von Fachhistorikern geschätzt. Sein letztes umfangreiches Œuvre, die History of the English-Speaking Peoples zeigt den Autor als den überzeugten Verteidiger des englischen Kolonialreichs, der er immer blieb.
Kaum je seit Cäsar wurde Geschichte so spannend erzählt
Churchills bekanntestes Werk ist aber seine sechsbändige Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Die deutsche Ausgabe erschien zwischen 1948 und 1954 unter dem Titel Der Zweite Weltkrieg im Berner Scherz-Verlag und befindet sich in den Bibliotheken vieler historisch interessierter Leser der Aktivdienstgeneration. Heute liest man vor allem die von Churchill selbst erarbeitete Kurzfassung dieses Werks, die im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen ist und noch immer über tausend Seiten zählt.
Ein dicker Schmöker, gewiss; aber kaum je seit Julius Caesar ist Geschichte von einem ihrer Hauptakteure so spannend erzählt worden wie hier. Churchill hat nicht den Ehrgeiz, eine wissenschaftlich erarbeitete Darstellung zu verfassen, obwohl er sich ausgiebig auf Quellenmaterial stützt. „Ich bezeichne diese Memoiren nicht als Geschichtsschreibung“, heisst es im Vorwort, „denn das ist die Aufgabe einer späteren Generation. Aber ich erhebe zuversichtlich den Anspruch, dass sie einen Beitrag zur Geschichte bedeuten, der für die Zukunft von Nutzen sein wird.“
Was Churchill vorlegt, ist ein Erlebnisbericht. Nicht alle Phasen des Kriegsverlaufs sind mit derselben Eindringlichkeit erfasst. Jene Geschehnisse aber, die England und ihn, dessen obersten Kriegsherrn, betreffen, werden eingehend abgehandelt: die deutsche Luftoffensive gegen London, der U-Bootkrieg im Atlantik, der Wüstenkrieg in Afrika, die Invasionen in Italien und Frankreich. Von allem Anfang an macht der Verfasser klar, dass er sich als Streiter für die Sache des Demokratie und des Friedens sieht und dass er seinen Kampf gegen Hitler ohne jedes Zugeständnis bis zur „bedinglosen Kapitulation“ fortzusetzen gewillt ist.
„I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat.“
Hitler hatte, wie man weiss, Sympathien für Grossbritannien, und er hätte, um sich den Rücken für den Russlandfeldzug freizuhalten, nicht ungern einen Separatfrieden mit England abgeschlossen. Doch für Churchill gab es auch in der schlimmen Phase der Bombardierungen und der Invasionsdrohungen nicht einen Augenblick des Zweifels oder der Unentschlossenheit. Diese Standhaftigkeit übertrug sich auf seine Mitarbeiter, auf das Parlament und auf die Nation; sie wurde sichtbar in Churchills alltäglichen Einsatz, in seiner Anteilnahme am Schicksal seiner Landsleute und, nicht zuletzt, in seinen Reden, die mit sicherem Instinkt den Widerstandswillen des Volkes anstachelten.
Wie kein anderer Staatsmann besass Churchill die Gabe der wirkungsvollen rhetorischen Sentenz, und man muss, um dies ganz zu begreifen, manche seiner Aussprüche in der Originalsprache zitieren. Zum Beispiel bei seiner Amtsübernahme: „I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat.“ Oder angesichts der deutschen Invasionsdrohung: „We are waiting for the long-promised invasion. So are the fishes.“ Oder zum Abwehrkampf der Royal Air Force: „Never in the field of human conflict was so much owed by so many to so few.“ Und schliesslich das grossartige Motto, das Churchill seinen Memoiren vorangesetzt hat: „In war, resolution; in defeat, defiance; in victory magnanimity; in peace, goodwill.“
"Ich schnurrte wie sechs Kater"
Was Churchills Memoiren zu einer spannenden Lektüre macht, ist die sehr persönliche Art, mit der dieser Autor auf seinen Leser eingeht. Zwar ist sich der Autor jederzeit seiner historischen Rolle bewusst, und er liebt es, sich auf gleichem Niveau wie die grossen Gestalten der Weltgeschichte zu sehen. Aber seine Memoiren sind bemerkenswert frei von der Arroganz der Mächtigen und von der Rechthaberei der Selbstgerechten.
Churchill schildert dem Leser anschaulich, wie er zu seinen Entscheidungen gelangte, wo er irrte und wo er mit seinen Plänen nicht durchdrang. Und vor allem: Er verbirgt nicht, wie sehr er am Geschehen emotional Anteil nahm.
Unübersehbar ist etwa die Erschütterung, mit der Churchill den Zusammenbruch Frankreichs kommentiert: „Ich habe“, schreibt er, „mit leichter Hand über die Geschehnisse jener Tage geschrieben, aber wir alle fühlten tiefste Qual in Herz und Seele.“ Und vor dem Beginn einer Offensive im Afrika-Feldzug schreibt er: „Ich schnurrte wie sechs Kater. Das war endlich etwas, das den Einsatz lohnte.“
Der schwierige General de Gaulle
Auch die zahlreichen Porträts führender Zeitgenossen, die sich in den Memoiren finden, sind ebenso sehr durch das Gefühl wie durch die Vernunft bestimmt. Wirklich gehasst hat Churchill nur den „Teppichbeisser“ Hitler und seine engsten Gefolgsleute, die er die höchsten Werte des Abendlandes mit Füssen treten sah. Den militärischen Gegner respektierte er. Von Rommel konnte er sagen: „Wir haben es mit einem grossen Feldherrn zu tun, wenn ich so etwas über die Schrecken des Krieges hinweg sagen kann.“ Das skrupellose Expansionsstreben des russischen Diktators Stalin hat Churchill, der erklärte Antikommunist, früh durchschaut.
Er bezeichnet Stalin als kalt berechnenden „Roboter“ und bricht einmal in den Klageruf aus: „Das Leiden ist das Los aller, die mit dem Kreml zu tun haben.“ Hoch geschätzt hat Churchill den amerikanischen Präsidenten Roosevelt, und keineswegs nur deshalb, weil England, um zu überleben, auf die amerikanische Unterstützung angewiesen war. Ambivalent war sein Verhältnis zum schwierigen General de Gaulle. Dennoch sei es seine erste Pflicht gewesen, schreibt Churchill, „de Gaulle in seiner tapferen Standhaftigkeit zu unterstützen“.
Den Zürcher Landwein fand er miserabel
In den Jahren 1940 und 1942 war Winston Churchill die dominante Figur unter Hitlers Gegnern. Nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor im Dezember 1941 und dem russischen Sieg bei Stalingrad im Januar 1943 ging sein Einfluss auf die Planung des Kriegsverlaufs immer mehr zurück. Die nach dem alliierten Sieg in Nordafrika erfolgte Invasion Siziliens und Italiens entsprach zwar noch seinen Plänen; seine Hoffung aber, anschliessend einen offensiven Hauptstoss über Trient, Wien und Prag zu führen, um Mitteleuropa vor dem sowjetischen Zugriff zu bewahren, scheiterte am Widerstand Roosevelts und Stalins. Diese räumten der Invasion in der Normandie, welche Churchill möglichst lange hinauszuschieben suchte, die Priorität ein. Im Bericht Der Zweite Weltkrieg, der niedergeschrieben wurde, als der Kalte Krieg und die Spaltung Europas zur düsteren Realität geworden waren, wird denn auch die Enttäuschung sichtbar, die der Staatsmann darüber empfand, dass sein strategischer Plan nicht umgesetzt werden konnte.
In unserem Land steht Winston Churchill zu Recht in hohem Ansehen. Ohne ihn und ohne den Wahnwitz von Hitlers Russlandfeldzug hätte unsere Geschichte einen fatalen Verlauf genommen. Als der Staatsmann nach dem Krieg unser Land besuchte, wurde er von der Bevölkerung begeistert empfangen. Den Zürcher Landwein, den man vorsetzte, fand er freilich miserabel, und während einer Kabarettvorführung von Elsie Attenhofer schlief er ein. Wie dem berühmten Staatsmann die Zigarren schmeckten, die ihm ein Aargauer Stumpenfabrikant zukommen liess, entzieht sich der Kenntnis des Historikers.