In den Medien brach geradezu ein Wettbewerb aus, wer bei der Kommentierung des Stimmenwirrwarrs in der Partei die Nase vorn hat. Während die Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag am 25. Mai zu „möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen in der Partei DIE LINKE“ auch aufgrund der dürftigen Studie zweier Sozialwissenschaftler nur mässige Resonanz fand, schaffte es der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, die interessierte Öffentlichkeit gegen die LINKE zu mobilisieren oder sie zumindest nachhaltig zu verunsichern.
Dabei hatte der CSU-Abgeordnete Hans-Peter Uhl an jenem 25. Mai „ein antisemitisches Grundrauschen in unserer Gesellschaft“ eingeräumt. Dieser Befund hinderte Dieter Graumann jedoch nicht daran, allein der LINKEN vorzuwerfen, dass ihre Versuche der Distanzierung von antisemitischen Tendenzen „spektakulär missglückt“ seien. Wieder einmal mag man sich in der Mitte der Gesellschaft bequem zurücklehnen, weil der Schuldige ausgemacht sei, während der Streit die LINKE fast zerreißt.
Vor dieser Gefahr wird keine „Beschlusslage“ schützen, solange der interne Klärungsprozess keine belastbaren Ergebnisse zu Tage fördert. Obwohl die LINKE nur das Spiegelbild eines schweren gesamtgesellschaftlichen Ressentiments ist, liefert die geradezu bestellte Aufregung eine höchst willkommene Projektionsfläche im Streit um parteitaktische Vorteile.
Test der Glaubwürdigkeit
Eine solche Strategie kommt besonders jenen zupass, denen es um eine Ablenkung von den eigenen Identitätskrisen geht. Die „Grünen“ sind zumindest vorerst davon verschont geblieben; doch „Stuttgart 21“ und das Projekt „Hochmoselbrücke“ dräuen. In ihrer Gründungsphase standen die „Grünen“ vor denselben Strukturproblemen und Durchstechereien, die heute die LINKE als politisch unbelehrbar erscheinen lassen und dazu führen, dass sie ihren Kritikern fast hilflos hinterherläuft und auf Methoden der flauen Verteidigung setzt.
Zum anderen bietet der Ansturm ihren Gegnern das Instrument, der Partei eine Initiative aus der Hand zu schlagen, an der sie selbst gescheitert sind: die Bundesregierung und die sie tragende Koalition zur Konkretisierung zu zwingen, warum sie die Pläne von Machmud Abbas und Salam Fayyad ablehnen, in den Vereinten Nationen die Proklamation des Staates Palästina zu betreiben. Denn der dem Bundestag vorliegende Antrag der LINKS-Fraktion, „Den Staat Palästina anerkennen“, läuft darauf hinaus, die politische Glaubwürdigkeit Angela Merkels und ihres Kabinetts in Sachen Zwei-Staaten-Lösung zu testen und ihre vorauseilende Kritik an „einseitigen Schritten“ ad absurdum zu führen: Die Bundesregierung tut so, als ob sie von der israelischen Politik nicht ständig vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Es wäre ein kapitaler Fehler, würde sich die Bundesregierung im Zuge der im September anstehenden Entscheidungen zur von der israelischen Politik erwünschten „moralischen Majorität“ zählen lassen. Damit wäre anerkannt, dass die bedrohliche Delegitimierung Israels nur durch den Verbleib in den palästinensischen Gebieten abzuwenden sei. Tatsächlich jedoch ist die Gefahr eine ganz andere: Die Ablehnung des Rückzugs wird mittlerweile von Gegnern Israels mit der Forderung quittiert, die Gründung des Staates 1948 als eines westlich gesteuerten kolonialistischen Projekts zu widerrufen.
Spreu und Weizen
Mag die LINKE die Manipulation der Wahrheit wie im Falle des Vorwurfs zurückweisen, sie habe sich einer fraktionsübergreifenden Erklärung zur Verurteilung des Antisemitismus verweigert, so wird sie nicht umhinkommen, politisch die Spreu vom Weizen zu trennen. Dazu gehört „links“ das Ende der Phantastereien von einem gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat. In Abgrenzung von Ilan Pappe (damals Universität Haifa) hat Uri Avnery vor vier Jahren darauf hingewiesen, dass ein solcher Staat auf die Fortsetzung der Gewalt hinauslaufe, und wenn er auf friedlichem Wege doch zustände käme, er auf lange Zeit in Politik und Wirtschaft ein Staat mit ungleichen Partnern wäre. Bei der „rechten“ Parteiflanke muss darauf bestanden werden, die deutsche Verantwortung für den Holocaust vom Urteil über Israels Politik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung im eigenen Staat und in den nach wie vor besetzten Gebieten abzugrenzen. Eine Verwischung der Verpflichtungen hält der Geschichte nicht stand.
Shimon Peres hat jüngst beklagt, dass der Staat Israel drauf und dran sei, mit voller Wucht auf eine Mauer der internationalen Isolierung zuzurasen und in einem binationalen Staat zu enden. Doch selbst die Warnungen des Staatsoberhauptes haben die Regierung in Jerusalem nicht vor einer diplomatischen Großoffensive gegen die Proklamation des Staates Palästina bewahrt – die darauf hinausläuft, die Entstehung eines lebensfähigen Staates zu verhindern. Die Botschaften in aller Welt sind angehalten, Avigdor Lieberman im wöchentlichen Abstand über die Ergebnisse ihrer Einflussnahme zu berichten.
Alle politischen Kräfte hierzulande sollten sich darin einig sein, über den unerlässlichen Kampf gegen den Antisemitismus den eigenen hohen Anteil an der Entstehung einer wild gewordenen Atmosphäre der Israel-Kritik nicht zu verdrängen. Die falsche Solidarität mit einem Israel, welche die Definition verweigert, mit wem sie denn aktiv sympathisiert, und gegenüber den Palästinensern die Kompensation der politischen Entscheidungsschwäche durch Bereitstellung umfänglicher finanzieller und technischer Mittel haben beides ausgelöst: beklemmende Lähmungen und heftige Aggressionsgelüste. Bis zu ihrer Überwindung kann man sich in Berlin jede wohlfeile Rhetorik vom Frieden für beide Völker sparen.