Überraschend lud Premierminister Narendra Modi letzte Woche die kaschmirischen Oppositionsparteien zu einem Gespräch nach Delhi ein. Es sind dieselben Parteien, die Modi auf den Müllhaufen der Geschichte werfen wollte, als er vor knapp zwei Jahren die Provinz-Verfassung aufhob und mehrere tausend Politiker und Kader in Haft nahm. Das Parlament wurde aufgelöst, und die meisten Grundfreiheiten – darunter jene der freien Meinungsäusserung – wurden aufgehoben.
Entgegenkommen oder Falle?
Es war aber auch eine Überraschung, dass die sechs grossen Parteien die Einladung annahmen. Denn noch immer sind viele Politiker in Haft oder stehen unter Hausarrest. Die Wiederherstellung des Internetverkehrs läuft wieder an, aber dies mit derart schlechten Netzkapazitäten, dass nicht viel mehr als Sprechverkehr möglich ist.
War Modis Einladung ein grosszügiges Entgegenkommen oder ist es eine Falle? Es fällt schwer, im Zusammenhang mit diesem Politiker Grosszügigkeit zu vermuten. Gerade die kaschmirische Opposition hat keinen Grund dazu. Aber sie konnte nicht anders, als der Einladung Folge zu leisten.
Der Premierminister machte für die Einladung nämlich die Vorbereitung für die Schaffung neuer Wahlkreise geltend, die nach der willkürlichen Zweiteilung Kaschmirs nötig wird. Sein Innenminister Amit Shah nannte es den Beginn des politischen Prozesses, der in Wahlen und – später – in die Wiederherstellung des Status von J&K als Gliedstaat münden soll.
«Union Territory»
Die lokalen Parteien haben seit dem Beginn des politischen «Lockdown» die Änderungen des Verfassungs-Status zurückgewiesen und dessen Wiederherstellung gefordert. Doch nun schien es, dass der Premierminister über seinen Schatten gesprungen war, als er die für ihn illegitimen Parteien zu einem Gespräch einlud. Es schien also nur fair, dass die Kaschmirer diesen Trinkbecher annahmen.
Dennoch wissen sie, dass sein Inhalt eine Giftmischung sein könnte. Wenn sie sich nämlich auf eine Neugliederung und Neuschaffung von Wahlbezirken einlassen, akzeptieren sie implizit den neuen Status Kaschmirs, den ihnen Modi und sein Innenminister Amit Shah im August 2019 aufzwangen. Er umfasst den Verlust Ladakhs, die Aufgabe der föderalen Autonomie und des Sonderstatus, den Kaschmir seit siebzig Jahren genossen hatte.
Nun soll Kaschmir ein «Union Territory» werden, das zwar Provinzparlament und -regierung hat, in dem aber neunzig Prozent der Macht beim Gouverneur – dem Emissär Delhis also – liegen. Das Fernbleiben bei der Schaffung neuer Wahlbezirke könnte aber auch bedeuten, dass der Region Jammu (wo viele Hindus leben) eine Mehrheit der neuen Sitze zugesprochen wird. Und falls sie der ersten Wahl dieses Rumpfstaats fernbleiben, könnte dies der BJP einen kampflosen Sieg bescheren. Es wäre die Erfüllung eines alten Traums: die Regierungsmacht einer Hindu-Partei im einzigen Bundesstaat Indiens mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit.
Ausgefuchster Schauspieler
Vierzehn Politiker aus Kaschmir, die meisten erst kürzlich aus der Beugehaft entlassen, trafen sich am 24. Juni im Premierministeramt. Es gab keine nennenswerten Resultate, wenn man die Geste von Innenminister Shah ausnimmt, die Haftentlassung politischer Gefangenen in die Hände einer unabhängigen Kommission zu legen.
Der Rest war reine «atmospherics»: Narendra Modi, der ausgefuchste politische Schauspieler, war ein überaus höflicher Gastgeber. Alle Parteivertreter konnten ihren politischen Standpunkt darlegen, Schwerverdauliches wurde ins würdevolle Gewand eines muslimischen Hofzeremoniells verpackt. Dass solche Rituale für die Kommentatoren dennoch schwer wogen, zeigt, wie tief die Gräben sind, die der Premierminister in den letzten Jahren zwischen sich und seinen politischen Gegnern aufgerissen hat.
Einbezug der Taliban
Es ist aber durchaus denkbar, dass Modis Einladung mehr als nur kaltblütiges Kalkül war – nämlich der erzwungene Versuch, sich strategisch nicht in die Enge treiben zu lassen. Denn mit dem nun eingeleiteten Rückzug der USA aus Afghanistan öffnet sich in der Region plötzlich ein politisches Vakuum. Nach zwanzig Jahren dominierender militärischer Präsenz verabschiedet sich die noch immer grösste Weltmacht aus einem der ältesten ungelösten Konfliktherde der Nachkriegszeit.
Noch folgenreicher dürfte die Frage sein, welcher Akteur als Erster in dieses Vakuum treten wird. Experten sind sich einig, dass die Taliban in naher Zukunft in Kabul einziehen werden – nachdem sie bisher nur eingesickert sind. Mit ihrer Ankunft wird die Regierung von Ashraf Ghani ihren Platz räumen müssen. Er ist ein enger Verbündeter Delhis – und ein Dorn im Fleisch Pakistans.
Islamabad sah in dieser drohenden «Umzingelung» durch den Erzfeind Indien immer schon, aber besonders seit der Abspaltung von Bangladesch 1971, eine existenzielle Bedrohung. Pakistans Militär-Geheimdienst ISI ist der Gründungsvater der Taliban, und mit ihrer Rückkehr auf den Thron von Kabul hat Islamabad nun wieder Rückendeckung. Dazu kommt, dass die beiden Terror-Organisationen, die in Kaschmir am offensivsten tätig sind – Lashkar-e-Toyba und Jaish-e-Mohammed – zuerst im afghanischen Jihad auftraten und gute Beziehungen mit den Islamschülern unterhalten.
Ratlose Kommentatoren
Wird die Taliban-Übernahme Afghanistans Pakistan dazu verleiten, an seiner Ostfront wieder aggressiver aufzutreten? Für den Augenblick gibt es keine Anzeichen dafür. Auch Pakistan hatte nach dem Verfassungs-Coup Modis in Kaschmir seine Beziehungen mit Delhi auf den Gefrierpunkt sinken lassen. Aber es war bemerkenswert, dass aus der politischen Kapitale Islamabad eine schrille Rhetorik zu hören war, während aus dem militärischen HQ in der Nachbarstadt Rawalpindi eine sehr viel gemessenere Kritik laut wurde.
Indische Kommentatoren sind weitgehend ratlos bei der Deutung dieser Signale. Es könnte sein, dass die militärische Führung einsieht, dass der ewige Kreislauf (Terror–Abkühlung–Annäherung–Terror–Abkühlung – etc.) für die Militärs ein Nullsummen-Spiel ist. Der Strategie-Experte Raja Mohan formuliert es noch drastischer: Kaschmir sei für die Generäle ein Brocken, der ihnen im Hals steckt, und den sie weder verdauen noch ausspeien können.
Die Rolle Chinas
Doch nun gibt es vielleicht ein Abführmittel dazu – China. Zumindest könnte die Modi-Regierung dies so sehen, meint die Journalistin Nirupama Subramanian im Indian Express. Die chinesische Volksarmee steht bereits an der Phantom-Grenze im Norden Kaschmirs. Beijing hat bisher nichts unternommen, um seine grossen Kampfverbände und Waffenlager wieder aus der Konfliktzone zurückzuziehen, in der es letztes Jahr zu tödlichen Handgemengen gekommen war.
China und Pakistan sind enge Verbündete. In der Vergangenheit hatte sich Beijing in der Kaschmirfrage zurückgehalten. Es konzentrierte seine Unterstützung auf Waffenlieferungen und diplomatisches Begleitfeuer im UNO-Sicherheitsrat, um eine militärische Eskalation zu vermeiden. Der letztjährige Aufmarsch an der indo-tibetischen Line of Control hat aber deutlich gemacht, dass diese strategische Zurückhaltung nun im Gefolge eines aggressiv eingeforderten Weltmachtanspruchs ihren Nutzen eingebüsst hat.
Es ist diese Kombination Afghanistan-Pakistan-China, die von Delhi möglicherweise als Bedrohung wahrgenommen wird. Indien kann sich keinen Zweifrontenkrieg leisten, und dieses Risiko könnte Modi veranlassen, seinen aggressiven ethno-nationalistischen Auftritt in Kaschmir zu mässigen.
Günstiger Zeitpunkt
Gegenüber Pakistan wäre der Zeitpunkt dafür nicht nur nötig, sondern sogar günstig. Denn erst vor einigen Monaten haben beide Armeen einen Waffenstillstand an ihrer Line of Control vereinbart (Indien hat auch mit Pakistan mehrere hundert Kilometer umstrittenen Grenzverlaufs!).
Dieser Waffenstillstand hat bisher erstaunlich gut gehalten. Laut indischen Militärquellen haben sich die Grenzübertritte von Untergrundkämpfern ins indische Kaschmir um fünfzig Prozent reduziert. Aber nun könnte die rasante Entwicklung in Afghanistan in Teilen der pakistanischen Öffentlichkeit die Versuchung wecken, daraus gegenüber dem alten Erzfeind Nutzen zu ziehen.
In der Nacht vom letzten Samstag warfen zwei unbekannte Drohnen über einer Luftwaffenbasis in Kaschmir Sprengstoffladungen ab. Für die Öffentlichkeit gibt es keinen Zweifel, dass sie den Fingerabdruck Pakistans tragen. Eine indische Revanche-Aktion ist ebenfalls unvermeidlich. Ihre Kalibrierung wird aber vielleicht einen Fingerzeig geben, ob und wie wichtig der Regierung eine Beruhigung der Lage in Kaschmir ist.
Die Drohnen-Päckchen richteten übrigens keinen schweren Schaden an. Sie zeigen aber wieder einmal, dass eine interessante technologische Entwicklung schon zu einem Sprengstoff-Boten geworden ist, noch bevor sie sich als friedliche Pizza-Lieferantin etablieren konnte.