Man reibt sich verwundert die Augen und glaubt, seinen Ohren nicht zu trauen? Ausgerechnet „Heimat“! War das Wort nicht mit Acht und Bann belegt? Gehörte es im heimischen Vokabular nicht zu den Lieblingsfeinden der „Achtundsechziger“ und ihrer Jünger – ja, im Grunde der gesamten, im aufgeklärten Weltbürgertum versammelten Linken? Heimat, so rümpfte man dort angeekelt die Nase, das roch unangenehm süsslich nach „Förster vom Silberwald“ und „Sennerin von St. Kathrein“ oder erinnerte kitschig an Gartenzwerge. Viel schlimmer noch: Heimat, das verband man geradezu zwangsläufig mit der Vorstellung von reaktionären Vertriebenenverbänden und deren vorgeblich insgeheim nie aufgegebenen Zielen der Rückgewinnung des nach dem Krieg Verlorenen.
Auferstehung eines Wortes
Und nun feiert der Begriff mit einem Mal wieder fröhliche Auferstehung; ist zwar noch nicht ganz in aller Munde, aber doch immerhin angekommen bei gewichtigen Multiplikatoren. Vor allem, weil diese nicht (wie möglicherweise zu vermuten gewesen wäre) im konservativen, sondern im linken Lager zu verorten sind. Gemeint sind hier zum Beispiel der Bundespräsident (und Sozialdemokrat) Frank-Walter Steinmeier und die Grünen-Spitzenpolitikerin Katrin Göring-Eckardt.
Und, seit Neuestem, der frühere SPD-Vorsitzende und (Noch-)Aussenminister Siegmar Gabriel. Nein, was da im neuesten „Spiegel“ zu lesen ist, stammt nicht aus der Feder eines erzkonservativen CSU-Hinterwäldlers, sondern ist wirklich das Nachdenk-Ergebnis eines deutschen Spitzengenossen!
Auch „Leitkultur“ nicht mehr tabu
Und allein diese Tatsache lässt es lohnend erscheinen, Wort für Wort aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen. Es gebe, schreibt Gabriel, die Notwendigkeit, eine offene Debatte über Begriffe wie „Heimat“ und „Leitkultur“ zu führen. Wörtlich: „Ist die Sehnsucht nach einer ‚Leitkultur‘ angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propaganda-Instrument? Oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?“ Vor wenigen Monaten noch wäre ein Autor solcher Sätze zwischen Flensburg und Konstanz, Rhein und Oder noch mit Hohn und Spott überzogen, wenn nicht sogar polit-kulturell gesteinigt worden.
Gar nicht so neu
Vor diesem Hintergrund wäre es ein Wunder, wenn Sigmar Gabriel nicht auch jetzt noch eine gehörige Tracht Prügel aus den diversen politischen und intellektuellen Zirkeln verabreicht bekäme. Allerdings bewegen sich seine Gedankengänge mittlerweile auf einem bereits vorgegossenen Fundament. So hatte, zum Beispiel, etwa am 3. Oktober, bei der Feier des Tags der Deutschen Einheit in Mainz, Bundespräsident Frank Walter Steinmeier (auch er ein Sozialdemokrat) u. a. gesagt: „Ich bin überzeugt, wer sich nach Heimat sehnt, ist nicht von gestern. Im Gegenteil: Je schneller die Welt sich um uns dreht, desto grösser wird die Sehnsucht nach Heimat.“ Und von Grünen-Politikern Karin Göring-Eckardt stammt diese interessante Aussage aus dem Wahlkampf: „Es ist unsere Heimat. Und in Sachen Heimatliebe lassen wir uns von niemandem übertreffen.“
Nun wäre es ja erfreulich, wenn die Erkenntnisse und die damit einhergehende Renaissance des Heimat-Begriffes Resultate von – sagen wir – Selbsterforschung wären. Also von einer Überprüfung früherer und nun als falsch erkannter Denkweisen. Ganz so ist es freilich nicht. Denn sowohl Gabriel, als auch der Bundespräsident, als auch die thüringische Grüne liessen durchblicken, dass ihre Äusserungen zum Thema Heimat nicht zuletzt der Sorge entsprangen, man werde sonst dieses gefühlsmässig besetzte Thema der rechts-konservativen „Alternative für Deutschland“ überlassen.
Tatsächlich hatte deren Bundestags-Spitzenkandidatin und jetzige Fraktionschefin, Alice Weidel, – vor dem Hintergrund der Flüchtlings-Problematik anscheinend nicht ohne Erfolg – im Wahlkampf appelliert: „Holen Sie sich Ihr Land zurück! Deutschland zuerst – weil wir auch in Zukunft dieses Land unsere Heimat nennen wollen!“
Ein schwieriger Begriff
„Unsere Heimat?“ Was ist das eigentlich? Das Vaterland? Dort wo die Muttersprache daheim ist? Lässt sich der Begriff geografisch eingrenzen? Das Wort gibt es in keiner anderen Sprache. Die Angelsachsen versuchen es zu übersetzen mit „homeland“ oder „native country“. Doch das trifft den Kern genauso wenig wie das französische „patrie“. Gustav Heinemann, einer der Vorgänger Frank-Walter Steinmeiers als Bundespräsident, hatte nach seiner Amtsleistung am 1. Juli 1969 gesagt: „Es gibt viele schwierige Vaterländer. Eines der schwierigsten ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“ Wohlgemerkt: Vaterland. Nicht Heimat.
Kein Wunder, vielleicht, in einem Land, das – die längste Zeit politisch und geografisch zerrissen – seit mehr als 200 Jahren mit diesem Begriff ringt und hadert. Schon der Dichter Joseph von Eichendorff trauerte vor nahezu zwei Jahrhunderten melancholisch um eine „untergehende Heimat“. Und Ernst-Moritz Arndt fragte „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Sollen nun alle Literaturfreunde ihre Eichendorff- und Arndt-Gedichte fortschmeissen? Weil die „Grüne Jugend“ – schulmeisterlich und daher natürlich auch keinen Widerspruch duldend – belehrt, dass „Heimat“ ein „Begriff der Gegenaufklärung und Irrationalität“ und daher nicht zufällig „in der Romantik entstanden und im Nationalsozialismus gebraucht“ worden sei?
Die Medien haben es schon länger gemerkt
Es mag schon sein, dass die Wiederentdeckung dieses irgendwie Wärme, Geborgen- und vielleicht auch Sicherheit ausstrahlenden Begriffs tatsächlich etwas zu tun hat mit der erregten innenpolitischen Debatte im Zusammenhang mit dem Massenzustrom von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen seit etlichen Jahren. Aber ursächlich ist das nicht. Denn erstaunlicherweise sprangen schon zur Jahrtausendwende nicht wenige ausgerechnet jener (sich ansonsten eher gern linksliberal-fortschrittlich gerierenden) Medien auf das „Heimat“-Thema.
Der „Stern“ gehörte genauso dazu wie „Die Zeit“. Nun haben Zeitungen und Zeitschriften natürlich immer auch etwas mit wirtschaftlichem Erfolg – Klartext: Verkauf – zu tun. Und siehe da, nicht nur wurden gegen Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr Umfragen dazu gemacht – sie wiesen, vor allem, eine grosse Bindung der Deutschen zum Begriff „Heimat“ aus. Nämlich nahezu 60 Prozent. Kein Wunder daher, dass die einstigen Spötter eingeschwenkt sind und „Heimat“ in den Redaktionen salonfähig wurde.
„Heimat“ ist nicht unbedingt schwarz-rot-gold
Freilich, wirklich interessant ist nicht diese Zahl. Wie wäre sonst der Erfolg zu erklären gewesen, den der Regisseur Edgar Reitz bereits 1984 mit seiner TV-Trilogie „Heimat“ über das Hunsrück-Dorf Schabbach erzielte. Was indessen verblüfft, sind die Auswertungen der Befragungen. Deutschland als geografische Grösse (als Lebensraum also) spielte für die Bundesbürger bei den Erhebungen von Infratest weder 1999 noch zehn Jahre später bei jenen von Emnid eine besondere Rolle. Gerade einmal 11 Prozent antworteten mit „Deutschland“ auf die Frage nach Heimat.
Trotzdem weiss die überwiegende Mehrzahl im Lande, was sie als Heimat sucht. So stimmten 92 Prozent der Befragten der Definition zu: „Menschen, die ich liebe beziehungsweise mag, zum Beispiel Familie, Freunde, Verwandtschaft“. Auf ähnliche Werte kamen „mein Zuhause“ und „Gefühle und Empfindungen, zum Beispiel Wohlfühlen, Geborgenheit, Sicherheit, Zufriedenheit“. Heimat, mit anderen Worten, trägt nicht unbedingt die Farben schwarz-rot-gold.
Ganz so einfach, allerdings, können es sich die Medienmacher und Meinungsbefrager wohl doch nicht machen. Denn diese simplen Betrachtungsweisen lassen schlichtweg die Tatsache ausser Acht, dass mit „Heimat“ (um genau zu sein: dem Verlust derselben) ungezählte Schicksale, Tragödien und Verzweiflung verbunden sind. Der Dichter Theodor Fontane schrieb einst: „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.“ Und, nicht inhaltlich, sondern nur sprachlich ein wenig verändert, stammt von dem Flüchtling und KZ-Überlebenden Jean Améry der Satz: „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.“
Mithin ist Heimat tatsächlich nicht zwangsläufig dort, wo man gerade lebt und sich wohl fühlt. Sondern sie ist zugleich ein Gefühl – eines, das nur schwer zu beschreiben ist. Man weiss das von den Erzählungen vieler Emigranten. Von Menschen also, die (durchaus im Sinne des Wortes) entwurzelt wurden. Denen sich die Ferne verklärte und Sehnsucht danach unerträglich wurde. Er sei, schrieb etwa der Emigrant und Schriftsteller Stefan Zweig, „erschöpft durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns“. Und resigniert, „nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet“. Kurz darauf nahm er sich mit seiner Frau 1942 in Brasilien das Leben.
Was lehrt uns das?
All diese Überlegungen und Geschichten sind ja ganz schön und gut. Aber besitzen sie auch irgendeinen Nutzwert? Natürlich tun sie das. Und sei es nur die Einsicht, dass es auch für die Deutschen endlich an der Zeit ist, ein vernünftiges und unverstelltes Verhältnis zu sich selbst und ihrem Land herzustellen. Kein von Pathos ummanteltes, aber auch kein von Misstrauen – ja, sogar Hass – verzerrtes. So wie ein Schiff ohne Anker ziellos treibt, ist ein Mensch ohne Verwurzelung nur Treibgut. Und dies in einer Welt, die sich scheinbar immer schneller dreht, in der sich bislang fest gefügt geglaubte Bindungen auflösen, in der Globalisierung und Digitalisierung zum einen als neue Heilsversprechen gepriesen, andererseits für viele zu Schreckgespenstern werden.
Kein Wunder daher: Es heimatet sehr im grossen Kanton.