Nach einer Hängepartie von fast einem Jahr ist bei der CDU jetzt zumindest eine Personalfrage geklärt: Armin Laschet, seit Juni 2017 Ministerpräsident von Deutschlands grösstem und bevölkerungsreichstem Bundesland Nordrhein-Westfalen, ist neuer Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Union. Mit einem Vorsprung von 55 Stimmen setzte er sich bei den 1001 Delegierten des 33. CDU-Bundesparteitags in Berlin gegen Friedrich Merz durch, der lange erklärter Favorit der so genannten Basis war.
Damit hat ein wichtiges Ereignis ein Ergebnis gezeitigt. Aber enthält dieses Ergebnis auch eine Lösung? Also zumindest in Ansätzen Antworten auf die Probleme, vor denen die Partei, der neue Chef, ja das ganze Land in den kommenden Wochen und Monaten stehen. Die CDU ist gewohnt – zusammen mit der bayerischen Schwester CSU – beim Regieren an vorderster Stelle zu stehen. Im Bund sowieso, aber möglichst auch in vielen Bundesländern. Dass dies so bleibt, wird von der Person an der Spitze schlichtweg erwartet.
Kein Spiegelbild einer Volkspartei
Dieser CDU-Parteitag in Berlin war in mehrfacher Weise von Eigentümlichkeiten geprägt. Die auffälligste war gleich für jedermann sichtbar: Wegen der strengen Corona-Einschränkungen waren keine Delegierten in den Messehallen anwesend. Die 1001 für die Wahl Autorisierten mussten daheim elektronisch votieren. Sicher, die drei Bewerber hatten sich mit Trainern und Trockenübungen für ihre Auftritte vorbreitet. Dennoch wirkten die allein in die TV-Kameras gerichteten Reden ohne Publikumsresonanz seelenlos, ja mitunter geradezu gespenstisch.
Völlig ungewöhnlich zudem (und für eine so grosse Partei eigentlich ein Armutszeugnis): Mit dem Aachener Armin Laschet, dem Sauerländer Friedrich Merz und dem Rheinländer Norbert Röttgen kamen alle drei Bewerber aus ein und demselben Landesverband, alle drei sind Juristen, katholisch und in derselben Studentenverbindung. Kein Aspirant aus einem anderen Landstrich, vielleicht aus dem Osten, keine Frau. Symbolisiert eine solche Rivalen-Truppe wirklich die ganze Breite einer Volkspartei?
Die Diskussion um den neuen CDU-Vorsitzenden war stets begleitet von der Frage, ob damit zugleich auch eine (Vor-)Entscheidung über die Frage fallen werde, mit wem die Partei in den Kampf um den Sieg bei der Bundestagswahl am 26. September ziehen werde. Das war und ist natürlich naheliegend. Nur zweimal in der Nachkriegsgeschichte akzeptierte die CDU einen Kanzlerkandidaten von der CSU. Beide Male in absoluten Ausnahmesituationen – Franz-Josef Strauss 1980 und Edmund Stoiber 2002. Im ersten Fall hatte Helmut Kohl aus taktischen Gründen dem Bayern den Vorrang überlassen, im zweiten Falle war es Angela Merkel. Beide zogen, nicht zu vergessen, später für jeweils 16 Jahre in die Regierungszentralen von Bonn und Berlin ein. Kein anderer Bundeskanzler kann auf so lange Regentenzeiten zurückblicken wie Kohl und Merkel. Und doch waren beide lange Zeit sträflich unterschätzt worden. Ein Zufall?
Mann der Wirtschaft
Armin Laschet, obwohl Gewinner beim Berliner Digital-Parteitag, gehört ebenfalls zu den Unterschätzten. Dazu mögen seine angenehme Umgangsform, sein unaufgeregtes Wesen, der eher gemütliche Aachener Tonfall und auch die mitunter kumpelhaften Auftritte beitragen. Aber spätestens seit seinem Wahlsieg 2017 im „eigentlichen SPD-Land“ Nordrhein-Westfalen über die seinerzeit als haushohe Favoritin und beliebteste deutsche Politikerin überhaupt gehandelte Hannelore Kraft (SPD) hätte Spötter und Lästerer eines Besseren belehren müssen. Jetzt in Berlin hat er seinen ärgsten Widersacher, Friedrich Merz, in die Schranken gewiesen. Exakt dieser Triumph freilich könnte sich für den Mann aus dem westdeutschen Dreiländereck auch als grösstes Problem erweisen.
Ein kurzer Rückblick: Merz (seinerzeit Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion) war 2002 der bis dahin bei weitem noch nicht so bekannten Angela Merkel im Ringen um die Oppositionsführerschaft unterlegen und später – noch immer deswegen beleidigt – ganz aus dem Bundestag ausgeschieden. Seither betätigte er sich, ohne Frage klug und erfolgreich, vor allem als Lobbyist.
Und als Dauerkritiker der Merkelschen Politik. Denn Merz hatte natürlich die ganzen Jahre über eine zahlenmässig nicht unerhebliche Anhängerschaft in der Union. Allerdings überschätzte er wahrscheinlich seine Position. Obwohl als Wirtschaftsexperte über die Parteigrenzen hinaus hochgeschätzt und auch wegen seiner Kritik an der Flüchtlingspolitik Merkels vielfach unterstützt, verlor er 2018 bei seinem ersten Anlauf um den Parteivorsitz gegen die damalige saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer. Wie sehr ihn und seine Gefolgschaft diese Niederlage schmerzte, zeigte sich schon kurz danach. Denn AKK sah sich seitdem bei ihrer Parteiarbeit einem permanenten Stör- und Sperrfeuer der „Merzisten“ ausgesetzt.
Allseitige Fassungslosigkeit
All das weiss natürlich Armin Laschet. Wobei es allerdings sein kann, dass der intelligente Friedrich Merz (vielleicht allzu sehr dem Ärger und der Enttäuschung nachgebend) noch während des laufenden Parteitags ausserordentlich dumm agierte. Nicht nur, dass er alle wohlmeinenden Ratschläge verwarf, sich wenigstens in die erweiterte Parteiführung wählen zu lassen, um weiterhin Einfluss zu nehmen, erhob er – zu jedermanns Verblüffung – den Anspruch, anstelle des Amtsinhabers Peter Altmeier sofort (!) zum Bundeswirtschaftsminister berufen zu werden. Die Kanzlerin liess diesem Ansinnen durch einen Sprecher umgehend eine kühle Absage erteilen. Indessen braucht es nicht viel Phantasie, um die wirkliche Gemütslage der Regierungschefin zu erahnen.
Doch auch wenn dem neugewählten CDU-Chef von dieser Seite nun erst einmal weniger Gefahr droht, stehen ihm im kommenden Dreivierteljahr wahre Herkulesaufgaben zur Bewältigung bevor – alles überschattet natürlich auf noch unabsehbare Zeit von der Corona-Krise. 2021 ist in der Bundesrepublik ein Superwahljahr mit fünf Landtags- und zwei Kommunalwahlen sowie der Entscheidung über den nächsten Bundestag als krönendem Höhepunkt. Selbstverständlich beansprucht Armin Laschet als Vorsitzender der grossen Unions-Schwester CDU den Griff nach der Kanzlerkandidatur. Doch um dies offiziell tun zu können, muss er der gesamten Unions-Gefolgschaft und darüber hinaus auch der Bevölkerung nachweisen, dass er tatsächlich politisch führen und Mehrheiten gewinnen kann.
Wie gross ist der Merkel-Bonus?
Die erste Nagelprobe steht auch schon bevor. Am 14. März werden in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz neue Landtage gewählt. Alles andere als eine leichte Aufgaben für die CDU. In Stuttgart stehen die dort einstmals übermächtigen Christdemokraten mittlerweile als kleiner Koalitionspartner im Schatten des allseits respektierten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Und in Mainz regiert die (als Person) beliebte Sozialdemokratin Malu Dreyer politisch farbenprächtig mit Grünen und Freien Demokraten. Sollten Laschet und die CDU schon bei diesen beiden Tests abstürzen, brauchte sich der Düsseldorfer Ministerpräsident auf künftige Karrieresprünge gar keine Hoffnung mehr zu machen.
Es geht an den Wahlurnen in Deutschland munter weiter. Zumal am 14. März ja auch noch in Hessen die Kommunalwahlen stattfinden werden. Und selbst solche werden im permanent aufgeregten Land zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz nicht selten gern zu „nationalen“ Entscheidungen stilisiert. Am 16. Juni sind dann die Menschen in Sachsen-Anhalt zur Stimmabgabe aufgerufen, am 12. September votieren die Niedersachsen über die Neubesetzung der Rathäuser, und für den 26. September sollte man sich in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern darauf einstellen, in der Wahlkabine zwei Kreuzchen zu machen – eins für den Landtag und das andere (wie in der gesamten Republik) für den neuen Bundestag. Und über dem gesamten Geschehen steht die offene Frage: Wie gross ist für die CDU/CSU der sogenannte Merkel-Bonus?
„Versöhnen statt spalten“
Schon im Vorfeld der Entscheidung über den Parteivorsitz war die Diskussion häufig mit der Forderung verbunden, der künftige Mann an der Spitze müsse die Partei wieder zusammenführen. Tatsächlich sind die Zustimmungswerte für Angela Merkel und damit auch für die Partei sehr hoch. Die Frau aus der Uckermark wird aber am 26. September nicht mehr antreten. Dann muss sich zeigen, wie hoch der Merkel-Bonus wirklich ist, und – viel wichtiger – ob er anhält. Immerhin sind, auf der anderen Seite, mit dem Namen Merkel auch Enttäuschung, Ärger, ja sogar Wut und zahlreiche Parteiaustritte verbunden.
Dem Wirtschaftsflügel ist die Kanzlerin bei sozialen Problemen viel zu oft auf den sozialdemokratischen Koalitionspartner zugegangen; das Wort von der „Sozialdemokratisierung“ macht schon lange die Runde. Das abrupte Umschwenken bei der nationalen Energiepolitik nach der Atom-Katastrophe von Fukushima wird ihr nach wie vor angekreidet.
Auf der konservativeren Seite sind der faktische Ausstieg aus der Wehrpflicht und das Chaos bei der unkontrollierten Zuwanderung von hunderttausenden Flüchtlingen und Asylsuchenden 2015 unverziehen. Der Vorwurf an die Adresse der Regierungschefin aus dem „nationalen“ CDU-Lager, „Merkel hat ihrem Nachfolger die AfD als Bündel auf den Buckel gebunden“, mag ungerecht und in seiner Härte auch übertrieben sein. Denn die AfD hatte es ja bereits vor dem Flüchtlingszustrom gegeben. Aber dass das seinerzeitige Offenhalten der Grenzen und in der Folge auftretende spektakuläre Kriminalfälle auch zahlreiche „eigentliche“ Anhänger von CDU und CSU zum Parteiwechsel und damit zum Anwachsen der Polit-Rechtsaussen geführt hat, ist unbestreitbar.
Friedrich Merz hatte schon vor Monaten angekündigt, er werde als CDU-Chef „die AfD halbieren“. Armin Laschet hingegen kann sogar nachweisen, dass er in Nordrhein-Westfalen die „Alternative für Deutschland“ um praktisch 50 Prozent von rund 15 auf 7,5 Prozent (beides laut Umfragen) verkleinert hat.
Doch das ist natürlich noch lange nicht die versprochene „Zusammenführung der Flügel“. Möglicherweise erinnert sich der Düsseldorfer Regierungschef in diesem Zusammenhang des Öfteren an einen seiner Amtsvorgänger. Es war der Sozialdemokrat und spätere Bundespräsident Johannes Rau, der 1987 mit der Parole „Versöhnen statt spalten“ als Kanzlerkandidat seiner Partei auf Stimmenfang ging. Er hatte damit wenig Erfolg. Laschet steht jetzt vor derselben Aufgabe. Und er steht unter Druck. Denn das Land steht vor Wahlen. Und die Partei will gewinnen. Das ist schon ein bisschen viel auf einmal.
Zumal CDU und CSU – selbst bei Wahlerfolgen in den Ländern, vor allem aber im Bund – einen, künftig womöglich sogar zwei Koalitionspartner benötigen wird. Klar, Laschet würde natürlich den traditionellen Partner FDP vorziehen. Schliesslich regiert er ja in Düsseldorf recht erfolgreich mit den Freien Demokraten. Doch was wäre, wenn die Liberalen am Ende gar nicht ins Reichstagsgebäude einziehen? Oder wenn Union und FDP auch gemeinsam die notwendige Mehrheit nicht zusammenbringen? Wieviel von ihrer Substanz würde die Union dann opfern müssen, um vielleicht mithilfe der Grünen an der Macht zu bleiben.
Wird sich Armin Laschet als derjenige politische Macher zeigen, der – am besten bereits in Kürze – Richtungen in die Zukunft weist? In eine Zukunft, die ganz andere Herausforderungen stellt an Technik, Innovation, Gesellschafts- und Sozialpolitik sowie an die Fähigkeit und Bereitschaft der Bundesrepublik, auch jene Verantwortungen zu übernehmen, die international in zunehmendem Masse von ihr verlangt werden?
Auch darüber ist auf dem merkwürdigen, seelenlosen, digitalen Parteitag in Berlin entschieden worden.