Die Prognosen für den Ausgang der US-Zwischenwahlen vom 8. November sind geteilt: Sie sagen entweder einen deutlichen Sieg der Republikaner («a red wave») voraus, oder sie schliessen ein überraschend gutes Ergebnis der Demokraten («a blue surprise») nicht aus. Der Erfahrung zufolge ist «eine rote Welle» wahrscheinlicher.
Man würde es in einer angeblich gefestigten Demokratie wie jener der Vereinigten Staaten nicht erwarten. Doch auch dieses Jahr sind Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeiten in Europa (OSZE) bei den Zwischenwahlen in Amerika präsent. Angesichts eines «stark polarisierten Umfelds» und des «sinkenden Vertrauens in die Integrität von Urnengängen» empfahl die OSZE ursprünglich, 500 Wahlbeobachter in die USA zu entsenden. Personalmangel zwang die Organisation, ihre Delegation auf 57 Mitglieder zu verkleinern – laut Tana de Zulueta, der kolumbianischen Delegationsleiterin, aber kein Problem.
An Arbeit dürfte es den Wahlbeobachtern am 8. November nicht mangeln. Noch immer erlaubt es das politische Klima, dass Don Bolduc, Senatskandidat der republikanischen Partei (GOP) in New Hampshire, Ende Oktober an einer Wahlveranstaltung unwidersprochen hat behaupten können, Schulen würden Kindern, die sich selbst als Katzen fühlen, Katzenklos zur Verfügung stellen: «Ich wollte, ich hätte das erfunden.» Die Behauptung, auf einer längst widerlegten Verschwörungstheorie basierend, ist auch von anderen GOP-Kandidaten als Fakt verbreitet worden, unter anderen von Gouverneurskandidaten in Minnesota und Colorado.
Irreführende Werbung
Wie solche Leute in Washington DC regieren werden, falls sie gewählt werden, ist eine offene, aber beunruhigende Frage. «Ihre Wahlreden porträtieren ein Amerika, in welchem die Wirtschaft zusammengebrochen ist, die Grenzen offen stehen, Schwerverbrechen auf Rekordhöhe sind, Lehrer ihre Kinder auf sexuellen Missbrauch hin trimmen, Trans-Athletinnen den Mädchensport überrannt haben und Schultoiletten vor Beutesuchenden und Perversen überquellen», schreibt Kolumnist Dana Milbank in der «Washington Post».
Seine Zeitung hat republikanische Wahlspots analysiert und kommt zum Schluss, die Werbung würde «eine atemberaubende Missachtung für Genauigkeit und Klarheit» verraten, wobei Kandidaten der republikanischen Partei und deren Alliierte «Nebensächlichkeiten in grundlose oder irreführende Behauptungen» verwandeln. Dass sie auch nach wie vor Donald Trumps Lüge bejahen, es habe 2020 Wahlbetrug gegeben, versteht sich von selbst.
Illusorische Wahrheit
In den USA sprechen Psychologen in diesem Kontext von einem «illusorischen Wahrheitseffekt», dem Phänomen, dass Menschen eine Falschinformation für wahr zu halten beginnen, wenn sie, wie abwegig auch immer, nur häufig genug wiederholt wird. So zum Beispiel Aussagen wie «ein Sari ist der kurze Faltenrock, den Männer in Schottland tragen» oder «Elefanten rennen schneller als Geparde».
Trotzdem sieht es so aus, als ob die Republikaner bei den «midterms» die Mehrheit im 435-köpfigen Repräsentantenhaus gewinnen werden, wo die Demokraten bisher eine Mehrheit von neun Sitzen hatten. Zur Wahl stehen wie alle zwei Jahre sämtliche Sitze der grossen Kammer. Ein Machtwechsel im Haus wäre nichts Aussergewöhnliches, denn der Erfahrung zufolge gilt bei Zwischenwahlen die Regel, dass die regierende Partei Sitze einbüsst. Fragt sich höchstens, wie massiv die Demokraten verlieren, ob sie den Verlust in Grenzen halten können oder ob es zu einem republikanischen Erdrutschsieg mit Dutzenden von Sitzgewinnen kommt.
Unbeliebter US-Präsident
«Amerikanerinnen und Amerikaner tendieren dazu, bei Zwischenwahlen für eine geteilte Regierung zu votieren als eine Watsche ins Gesicht des amtierenden Präsidenten», sagt Historikerin Laura Smith von der Oxford University. Auf jeden Fall sieht die US-Bevölkerung derzeit ausreichend Grund, Joe Biden abzuwatschen. Laut einer Umfrage von «Washington Post» und ABC News finden 53 Prozent der Befragten, der Präsident mache keinen guten Job. Indes sagen 51 Prozent unabhängiger Wählerinnen und Wähler, sie wünschten sich nächstes Jahr im Kongress die Republikaner als Gegengewicht zu Joe Biden an der Macht.
Offener ist der Wahlausgang am 8. November im 100-köpfigen Senat, wo sich derzeit noch Demokraten (unter ihnen zwei Unabhängige) und Republikaner die Waage halten und Vizepräsidentin Kamala Harris bei einem Patt den Stichentscheid fällt. Der GOP genügt also der Gewinn eines einzigen Sitzes, um in der kleinen Kammer die Kontrolle zu übernehmen.
Für die Demokraten spricht, dass die wohl engsten Rennen um Senatssitze in Staaten stattfinden, die 2020 für Joe Biden gestimmt haben. Auch könnten sich die Republikaner selbst geschadet haben, indem sie teil extreme Kandidaten von Donald Trumps Gnaden wie in Georgia den früheren Football-Star Herschel Walker nominiert haben, deren Mehrheitsfähigkeit schwer einzuschätzen ist.
Wirtschaft Thema Nr. 1
Der Umfrage von «Post» und ABC zufolge sind die Wirtschaft, Abtreibung und die Inflation in dieser Reihenfolge jene Themen, die Wählerinnen und Wähler parteiunabhängig am meisten beschäftigen. Dabei hatten die Demokraten lange Zeit gehofft, der Entscheid des Obersten Gerichts, das Recht auf Abtreibung landesweit aufzuheben und den Einzelstaaten zu überlassen, würde sie in der Wählergunst bevorteilen.
Doch inzwischen gehört die Sorge über steigende Heizkosten, Benzin- und Lebensmittelpreise sowie die Furcht vor steigenden Verbrechensraten und unkontrollierter illegaler Einwanderung zu den drängendsten Themen der Zwischenwahlen. Weitere wichtige, wenn auch untergeordneten Themen sind Schulfragen, hier in erster Linie die Lehrpläne, sowie LBGTQ-Rechte – zwei Themenkreise, die republikanische Kandidaten aggressiv bewirtschaften. Was sich in wahlentscheidenden Staaten, die mal demokratisch und mal republikanisch wählen, sowie unter gemässigten Wählerinnen und Wählern aber rächen könnte.
Noch kein grosses Thema ist der Krieg in der Ukraine, obwohl Kevin McCarthy, Minderheitsführer der GOP im Abgeordnetenhaus, hat verlauten lassen, das Ausmass der Hilfe für die Ukraine sei künftig wohl nicht mehr unbestritten. Auf dem Spiel stehen bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlern auf einzelstaatlicher und lokaler Ebene auch die Wahlrechte, die republikanische Gouverneure und für Urnengänge zuständige Offizielle der GOP auf Kosten von Minderheiten beschneiden möchten, obwohl sie ihre Pläne als Versprechen verkaufen, Wahlen künftig sicherer zu machen
Aggressiver Widerstand
Die Republikaner signalisieren auch, dass sie sich im Falle eines Sieges im Kongress Joe Bidens politischer Agenda aggressiv widersetzen würden. Das gälte im Senat etwa im Fall einer neuen Nomination für den Supreme Court, sollte eine solche fällig werden. Im Haus würde die GOP wohl eine Anhebung der Schuldenobergrenze bekämpfen, um die Demokraten zu Einsparungen zu zwingen.
Im Raum steht ferner die Drohung, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Joe Biden anzustreben und das Geschäftsgebaren seines Sohns Hunter Biden unter die Lupe zu nehmen. Weiter auf der Agenda der Partei stünden wohl Hearings und Verfahren im Fall des Sonderausschusses im Haus, der den Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 untersucht, oder der Durchsuchung des Sitzes von Donald Trump in Mar-a-Lago (Florida) durch das FBI auf der Suche nach geheimen Dokumenten, die der Ex-Präsident nicht zurückgegeben hat.
Viel Geld im Spiel
Weitere mögliche Steine des Anstosses aus Sicht der Republikaner sind der überstürzte Abzug von US-Truppen aus Afghanistan im August 2021 oder die Rolle von Dr. Antony Fauci bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Auch gibt es Stimmen innerhalb der GOP, die dafür plädieren, die staatliche Altersvorsorge («Social Security») und die Krankenversicherung für US-Bürgerinnen und Bürger ab 65 («Medicare») zu überdenken, d. h. zu beschneiden.
Wie immer bei amerikanischen Wahlen sind auch bei den «midterms» 2022 gigantische Geldsummen im Spiel. Der Federal Election Commission (FEC) zufolge haben allein die 50 grössten Wahlkampfspender 1,1 Milliarden Dollar in ihre bevorzugte Seite investiert, auch wenn diese Gaben mehrheitlich der republikanischen Partei zufliessen. Grosszügigste Spender auf demokratischer Seite sind mit 128,5 Millionen Dollar der Milliardär und Hedgefonds-Gründer George Soros (Platz 1) und mit 39,2 Millionen Dollar der Investor und Unternehmer Sam Bankman Fried (Platz 5).
Die Rolle des Fernsehens
Hinter den Republikanern stehen das Unternehmerpaar Elizabeth und Richard Uihlein mit 70,2 Millionen Dollar (Platz 2), der Hedgefonds-Manager Kenneth Griffin mit 65,9 Millionen Dollar (Platz 3), der Investor Jeffrey Yass mit 48,2 Millionen Dollar (Platz 4) und Blackstone-CEO Stephen Schwarzman mit 32,7 Millionen Dollar (Platz 6). Einige dieser Spender wie George Soros oder Stephen Schwarzman sind bekannte Gesichter auf dem politischen Parkett, während das auf andere wie Elizabeth und Richard Uihlein oder Kenneth Griffin weniger zutrifft.
Am Ende kommt bei den US-Zwischenwahlen am 8. November auch der Berichterstattung des Fernsehens eine wichtige Rolle zu. Einerseits ist Umfragen zufolge das Vertrauen der amerikanischen Bevölkerung in die Medien empfindlich gesunken, anderseits haben etliche Kandidatinnen und Kandidaten angetönt, sie könnten Wahlbetrug reklamieren, falls ihnen die am Bildschirm verkündeten Ergebnisse missfallen.
Die Fernsehgesellschaft CBS, die seit 1948 Wahlen überträgt, hat deshalb als Schwerpunkt ihrer Live-Sendung erstmals ein «Democracy Desk» installiert, ein Pult, dessen Gäste – Experten in Wahlrecht und Korrespondenten – exklusiv über Betrugsvorwürfe und Gewaltandrohungen berichten werden. «Es ist keine traditionelle Errungenschaft», sagt Mary Hager, die für Politik zuständige Chefredaktorin, «aber ich bin mir nicht sicher, ob wir je wieder von traditionell sprechen werden.»