Ein Beispiel für einen solchen Fall ist die Oper „La Wally“ des Komponisten Alfredo Catalani (1854–1893). Dieses Werk des so begabten wie mutigen, aber zu Lebzeiten selten glücklichen Komponisten wurde 1892 an der Scala in Mailand uraufgeführt, stiess zwar bald einmal auch andernorts auf Interesse, weil es überzeugte Förderer fand – den jungen Toscanini in Italien und Amerika, den grossen Gustav Mahler in Hamburg und später in Wien. Mahler hielt diese Oper für eine der besten der italienischen Komponisten des späten 19. Jahrhunderts.
Ein Heimatroman steht am Anfang
Ausgangspunkt für den Inhalt der Oper war der Roman „Die Geier-Wally“ (1873) der Autorin Wilhelmine von Hillern. Da wird das Leben einer weder durch rohe Naturgewalten noch durch patriarchalische Vormacht und kirchliche Sittenherrschaft zu erschreckenden Tirolerin geschildert. Der Roman wurde ein grosser Publikumserfolg und bald schon in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt, weil er die Erwartungen an dramatische Lebensschicksale, urwüchsige Natur und alpine Lebensformen so hervorragend bediente.
Die Autorin mutet ihrer Heldin ja auch alle nur denkbaren Zustände von Not und Entbehrung eines Lebens in den Hochalpen Tirols zu. Sie zeichnet dabei aber auch einen durch charakterliches Aufbegehren und trotzige Selbstbehauptung höchst bemerkenswerten weiblichen Wildfang. Das musste auch den urbanen Leserschichten als alternative Unterhaltung zum eigenen Lebensangebot ausserordentlich gefallen. Frau Wilhelmine von Hillern verwendete ihre Figur sogar „multimedial“, denn sie fertigte aus dem Romanstoff auch noch ein erfolgreiches Theaterstück. Im 20. Jahrhundert wurde ihre auf den Roman fussende Geschichte der „Geier-Wally“ sogar viermal verfilmt. Später entstanden dazu auch noch eine Fernsehproduktion und eine Verarbeitung zum Musical. Die Geier-Wally war eine sichere Karte für populären Erfolg.
Wen wundert es also, dass auch Opernkomponisten sich fragten, ob diese die Geiernester in beinah unzugänglichen Felswänden plündernde Alpentochter nicht auch eine Figur auf den Bühnen der Opernhäuser abgeben könnte? Das Glück fügte es, dass einer der besten Librettisten Italiens sich des Romans annahm, nämlich Luigi Illica, der später durch seine Zusammenarbeit mit Puccini zu weltweiter Berühmtheit gelangen sollte. Illica trotzte der Romanautorin sogar die Erlaubnis ab, die Geschichte nicht wie im Roman in einer schnulzigen Romanze als bürgerliche Ehe ausklingen zu lassen, sondern ganz und gar opernmässig: in einer dramatischen Naturkatastrophe. Das Liebespaar, das sich nach Irrungen und Wirrungen endlich gefunden hat, kommt in einer zu Tal stürzenden Lawine ums Leben.
Ein unglücklicher Komponist
Catalani, der mehrere heute kaum mehr aufgeführte Opern schrieb, hatte das Unglück, unter Verfolgungswahn und Depressionen zu leiden. Den jungen Puccini hasste er abgrundtief. Das Schicksal wollte es, dass er bereits im August 1893 im Alter von 39 Jahren starb. Es ist nicht auszudenken, was von diesem grossen Könner im Operngeschäft noch zu erwarten gewesen wäre, hätte er ein „Verdisches Alter“ erreicht!
Interessant ist, dass in unserer Zeit ein neues Interesse gerade für den Umgang mit „trivialen Stoffen“ auf der Opernbühne entstand, sodass in jüngster Zeit neue Auseinandersetzungen mit und Bemühungen um Catalanis Oper „La Wally“ festzustellen sind. Man entdeckt jetzt wieder den „melancholischen Lyrismus“ dieses Komponisten, seine geschickten Einflechtungen von lokalen Liedern und Tänzen in eine originelle Harmonik und nicht zuletzt auch eine Instrumentationskunst, die aufhorchen lässt. Ein Kenner behauptet sogar, in „La Wally“ scheine „phantomartig eine andere Möglichkeit des italienischen Musikdramas zwischen den Hauptströmungen (gemeint sind Romantik und Verismus) auf.“
Unwiderlegbar bleibt, dass Catalani eine Arie für „La Wally“ schuf, die bei Opernfreunden geradezu den Status eines alle Zeiten und Moden zu recht überdauernden Ohrwurms hat. Dabei geht diese Arie ursprünglich auf ein „grönländisches Lied“ nach einem Text von Jules Verne zurück. Catalani hat es im Zug der Ausarbeitung der Oper in die Abschiedsarie der Wally „Ebben, ne andrò lontano“ – mit genialer orchestraler Farbigkeit – am Schluss des 1. Aktes eingebaut.
„Nun gut, so ziehe ich denn weit hinauf ...“
Die Ereignisse spielen um das Jahr 1800. Wally, die Tochter des reichen Bauern Stromminger, soll den von ihr ungeliebten Gutsverwalter Gellner heiraten. Sie weigert sich, da sie heimlich den Bärenjäger Giuseppe Hagenbach liebt. Ihr Vater vertreibt sie wegen ihrer Unnachgiebigkeit aus dem Elternhaus. Sie nimmt Abschied vom Heimatdorf im Ötztal, um in eine hoch im Schneebereich der Alpen liegende Berghütte zu ziehen.
Weit hinauf will sie, wie sie in der Arie singt, soweit, wie der Nachklang der Glocken reicht. Bis hin „zum weissen Schnee, zu den goldenen Wolken“, wo die „Hoffnung nur noch Klage und die Klage nur noch Schmerz“ sei. Abschied nehmend erinnert sich Wally an das Haus, in welchem sie mit ihrer Mutter vor deren Tod glücklich lebte, ein Haus, das sie wohl nie mehr sehen soll. „Mai più, mai più“ – nie wieder: Das ist es, was sie jetzt am meisten quält.
Wally täuscht sich zwar. Denn nach dem Tod ihres Vaters wird sie Haus und Hof erben, ins Dorf zurückkommen, sich verlieben in ihren Jäger Giuseppe, sich mit Schuld beladen und diese danach tief bereuen. Sie missversteht einen „geraubten Kuss“ und glaubt, ihr Geliebter liebe eine andere. Aus Mitleid wird sie ihr Hab und Gut verschenken, um am Ende wieder in die Berghütte zurückzukehren, wo sie ihren Geliebten wieder findet. Dies freilich nur kurz, um im Liebestod mit ihm in den Lawinentod zu gehen.
Am Ende der Oper lässt Catalani die Abschiedsmusik ihrer grossen Arie noch einmal erklingen. Jetzt weiss man es genau: „Weit hinauf“, das bedeutete von Anbeginn: näher den Wolken aus Gold und näher dem Himmel als der Erde. Die Geschichte mag eine von ihr nicht abtrennbare Kitschseite haben. Die Musik Catalanis hüllt diese in beglückender Weise in Wohlklang und Zauber.
Kaum eine der bedeutenden Sopranistinnen des 20. Jahrhunderts hat es unterlassen, diese Arie der Wally zu singen und einzuspielen. Auf YouTube sind viele davon dokumentiert. Ich nenne nur einige der Herausragenden: Renata Tebaldi (1953), Magda Olivero (1972), Montserrat Caballé (1976), Kiri Te Kanawa (1993), Angela Gheorghiu (1994), Renée Fleming (2003). Heute sind sie im Repertoire von Sängerinnen wie Anna Netrebko und Anja Harteros.
Für meinen Geschmack gibt es keine ergreifendere Aufnahme als jene, die Maria Callas im Jahr 1954 – auf dem Höhepunkt ihrer stimmlichen und musikalischen Gestaltungskunst – realisiert hat. Man sollte sie hören, bevor man selbst in die Himmelswolken aufsteigt.