Arnold Hottinger, der vor fünf Jahren starb, gehörte zu den weltweit besten, profiliertesten und herausragendsten Nahost-Experten. Er berichtete 30 Jahre lang für die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ). Nach seiner Pensionierung verfasste er mehrere hundert Artikel für Journal 21. Das Thema «Gaza» beschäftigte ihn immer wieder. Wir publizieren hier einen seiner Artikel vom Mai 2018.
Artikel von Arnold Hottinger vom 21. Mai 2018. (Mehr zu Arnold Hottinger siehe unten)
Sind die Opfer selbst schuld?
Die Gaza-Demonstrationen wurden blutig niedergeschlagen. Doch der Druck der Palästinenser auf Israel wird zunehmen.
Hundertzehn Tote und 6’938 Verwundete ist die vorläufige Bilanz der Gaza-„Heimkehr“-Demonstrationen, die am 30.März begonnen haben und dieser Tage ausklingen, obwohl ihre Verlängerung bis auf den 5. Juni angekündigt worden war. Es sind alles palästinensische Opfer. 3’615 der Verwundeten wurden durch scharfe Schüsse verletzt. „Die meisten von ihnen werden ernsthafte physische Behinderungen davontragen“, sagen MSF (Médecins sans frontières).
Eine Diskussion in der diplomatischen Welt wurde darüber ausgelöst, ob die Abwehrmassnahmen der israelischen Armee, Tränengas aber auch Kriegsmunition eingesetzt durch Elite-Einheiten von Scharfschützen, der Lage angemessen oder unangemssen waren. Die Debatte wird kein klares Ergebnis hervorbringen. Beide Seiten werden darauf bestehen, dass sie recht haben und handeln mussten, wie sie handelten.
Ist Hamas der Täter?
Auch die Rolle von Hamas wird umstritten bleiben. Für die israelische Seite hat die Organisation die Demonstrationen organisiert, hauptsächlich, um von ihren eigenen Fehlern abzulenken und ihre sinkende Popularität unter der Gaza-Bevölkerung aufzufrischen. Hamas habe auch gehofft, sagen die Israeli, unter der Deckung der demonstrierenden Massen die Gaza-Barriere zu durchbrechen und dann eine „Mordaktion“ in den israelischen Siedlungen durchzuführen.
Die Gegenseite betont, es habe sich um eine spontane Aktion der Gaza-Bevölkerung gehandelt, getrieben durch die Lebensumstände, in dem immer toxischer werdenden Freiluftgefängnis, in welchem die Israeli, mit ägyptischer Hilfe, 1,3 Millionen Menschen eingesperrt halten.
Jedenfalls war Hamas beteiligt
Beide Argumente dürften teilweise zutreffen. Hamas hat offen die Demonstranten ermutigt und unterstützt. Hamas-Verantwortliche gaben sogar bekannt, dass sich unter den 65 Erschossenen vom vergangenen 14. Mai 50 Hamas-Aktivisten befunden hätten. Doch umgekehrt gab es ein deutliches Echo der Zustimmung, die der Plan bei den Massen der Gaza-Bewohner fand. Dies, obwohl klar war, dass er blutig werden würde, und zu erwarten war, dass ein Durchbruch „nach Hause“ nicht stattfinden werde. Trotz der von israelischen Flugzeugen abgeworfenen Warnungen, die der Bevölkerung rieten zu Hause zu bleiben, demonstrierten Tausende.
Das Echo in der Bevölkerung war ohne Zweifel darauf zurückzuführen, dass die Verzweiflung der Gazioten über ihr aussichtsloses Leben, besonders natürlich der Jungen von ihnen, so gross war, dass sie sogar ein gefährliches und wenig aussichtsreiches Unterfangen auf sich nahmen – wahrscheinlich erleichtert darüber, dass für einmal überhaupt etwas geschah.
Das Ausland wird nichts tun
Sie haben erreicht, dass sich das Ausland für einen kurzen Moment auch wieder einmal der Gazafrage zuwandte, nachdem diese angesichts grösseren Elends in Syrien, in Jemen, in Libyen und im Irak und vielleicht dank Trump und Netanjahu auch bald in Iran zu einer schon über zehn Jahre alten bedauerlichen Routinesache geworden war.
Doch das Ausland wird nichts Wirksames tun, um die Blockade von Gaza zu Ende zu bringen. Es kann es nicht, weil es uneinig darüber ist, ob und wie es eingreifen will. Doch langsam scheint die internationale Gemeinschaft zu erkennen, dass es so wie es geht, eigentlich nicht fortdauern sollte. Das wissen auch manche der Israeli. Doch offenbar nicht die Mehrheit, der vorgesagt wird und die sich vorsagen lässt, ihr Land sei und bleibe erfolgreich, eine Demokratie, die nichts anderes täte, als sich zu verteidigen gegen übel gesonnene Feinde, die sie zu vernichten drohten.
Täglicher, ungleicher Kleinkampf
Die Feinde gibt es tatsächlich. Israel handelt derart, dass ihre Zahl zunimmt und ihre Verbitterung auch. Im Raum zwischen Mittelmeer und Jordan leben heute gleich viele Palästinenser wie Israeli. Die Palästinenser sind unterteilt in israelische Palästinenser, Palästinenser, die in Jerusalem leben, Palästinenser in den besetzten Gebieten und Palästinenser in Gaza. Jenen von Gaza geht es am schlechtesten, denen in Israel am besten. Doch alle sehen sich selbst als minder berechtigt gegenüber den Israeli – und erfahren dies auch täglich.
In den besetzten Gebieten und in Jerusalem spielt sich ein täglicher, ungleicher Kleinkampf ab um Territorien, die von den Israeli allmählich den Palästinensern entzogen werden. In diesem Kleinkampf ist die eine Seite bewaffnet mit einer potenten Armee, die andere wehrt sich mit Steinwürfen und manchmal mit Messern, was ihr als Verbrechen und Terrorismus ausgelegt wird.
Menschenparkplatz in Gaza
Gaza dagegen ist ausgeklammert und isoliert hinter der undurchdringlichen Doppelbarriere aus Stacheldraht und elektronischen Alarmgeräten. Wer sich ihr auf 300 Meter annähert, riskiert, erschossen zu werden. Die Barriere ist keine Grenze, weil das ausgegrenzte Gebiet, der Streifen, kein Land ist, kein Staat, sondern bloss ein überbevölkertes Territorium, das von Israel und von Ägypten umschlossen wird, zu Land, zur Luft und zu Wasser mit beschränkter Zulassung der Güter und Nahrungsmittel, die Israel als genügend erachtet.
Dort wird ein Teil der Palästinenser parkiert, während andere Teile in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und der Altstadt sowie der Umgebung Jerusalems in kleinen, aber systematischen Schritten zugunsten von israelischen Siedlern enteignet werden.
Die Enteignung der Westjordangebiete
Dies geschieht unter der Aufsicht der israelischen Armee und dem Zwang, den sie den besetzten Gebieten auferlegt. Dass es zugleich auch palästinensische Polizisten gibt, die mit der israelischen Besatzung zusammenarbeiten, verändert die Lage kaum. Diese Polizisten, die zur PLA gehören, der sogenannten Palästinensischen Autorität, glauben noch immer daran oder reden sich ein, dass künftig einmal ein Frieden zwischen den Israeli und den Palästinensern geschlossen werden könnte, der den Palästinensern ihr eigenes Staatsgebiet zuweisen würde.
Die Israeli haben ein Interesse daran, diese Fiktion aufrecht zu erhalten, weil sie Ruhe in den besetzten Gebieten benötigen, während sie ihre langsame Besitzergreifung des Landes vorantreiben. Alles auf einmal zu verschlingen, würde zu viel Kritik von aussen und Widerstand von innen hervorrufen. Und genügend Siedler, um alles sofort an sich zu reissen (wie es 1948 bei der damaligen Vertreibung von 700’000 Palästinensern geschah), haben sie auch nicht.
Der „jüdische Staat“ marginalisiert die Nicht-Juden
Die regierende israelische Rechte bemüht sich, den Vorrang der Israeli vor den verschiedenen Kategorien von Palästinensern, die ihrer Macht unterstellt sind, zu zementieren, indem sie Israel zu einem „jüdischen Staat“ erklärt. Das macht alle Palästinenser, heute die Hälfte der militärischen oder zivilen Macht Israels unterstellten Gesamtbevölkerung, zu Aussenseitern, vermutlich mit minderen Rechten. Die ausgegrenzten, genauer ausverbarrikadierten, Gazioten sind völlig rechtlos in Israel.
Die israelische Propaganda erklärt, es gehe nicht anders und ausserdem hätten die Palästinenser sich selbst in ihre gegenwärtige Lage gebracht. „Wenn sie immer nett mit uns gewesen wären, wären auch wir nett mit ihnen umgegangen.“ Und: „Sie haben gegen uns gekämpft und wir müssen uns gegen sie zur Wehr setzen. Bisher haben sie dabei immer wieder verloren.“ Was zutrifft. Nur, sie sind immer noch da. Die Heimkehr-Demonstrationen ohne Heimkehr aber mit bisher über hundert Toten und nahezu 7’000 Verwundeten haben dazu gedient, an diese Tatsache einmal mehr zu erinnern. Solche mehr oder weniger blutige Erinnerungen wird es auch in der Zukunft geben. Der Druck der Israeli auf die palästinensische Hälfte der Gesamtbevölkerung, die unter der Herrschaft Israel steht, wird dafür sorgen. Dazu kommen auch noch die Heimkehransprüche – theoretisch von der Uno als rechtlich anerkannt – der weiteren 5 Millionen ins Ausland geflüchteten Palästinenser und ihrer Nachkommen.
Ohne Ausgleich kein Stillstand
Wenn die gegenwärtige Abwehr- und Aneignungspolitik Israels fortgesetzt wird, wird dieser Druck weiter wachsen, denn stillstehen kann die Dynamik nicht. Der Gegendruck ebenso. Die israelische Demokratie wird zu einer Zwei-Klassen-Demokratie werden nach spartanischem Vorbild, soweit sie es nicht bereits ist. Mitbetimmungsrecht für die Bewohner des jüdischen Staates (darunter auch einige Zweitklassbürger palästinensischer Abstammung und islamischer oder christlicher Religionszugehörigkeit) und immer wachsende Zahlen von Heloten rundum, die systematisch aufgespalten, niedergehalten und der Rechte auf ihren Land- und Hausbesitz fortschreitend beraubt werden müssen.
Die Toten und die Verwundeten von Gaza sind da, um deutlich zu machen, dass dieser Prozess immer weiter geht und dass die „Friedensprozesse“ und „Friedensverhandlungen“ von Oslo bis Trump als eine spanische Wand dienen, deren Zweck es ist, die realen Vorgänge dem Blick zu entziehen und sie soweit irgend möglich dem Weltbewusstsein verborgen zu halten.
Der 1926 in Basel geborene Arnold Hottinger hatte mit seiner ausserordentlichen Kenntnis der arabischen Welt und der islamischen Kultur den Schweizer Journalismus während Jahrzehnten massgeblich mitgeprägt. Er war von 1961 bis 1991 Nahost-Korrespondent der NZZ, erst mit Sitz in Beirut, später in Madrid und ab 1982 in Nikosia. Er gehörte zu den international angesehensten Nahost-Experten.
Er berichtete auch für das damalige Radio DRS («Echo der Zeit») sowie andere Radiostationen und publizierte in Zeitschriften. Arnold Hottinger hat mehrere Bücher geschrieben, von denen einige als Standardwerke gelten. Seit der Gründung unserer Internet-Zeitung war er mit dabei. Insgesamt verfasst er für Journal 21 fast 600 Artikel. Den letzten Text schrieb er am 21. Januar 2018. Thema war die Entwicklung im Sudan.
Hottinger war 2013 mit dem Lifetime Achievement Award ausgezeichnet worden. 2015 erhielt er den Zürcher Journalistenpreis für sein Gesamtwerk.
Hottinger sprach neben Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch auch sieben arabische Dialekte. Während Jahrzehnten reiste er durch alle arabischen und islamischen Länder. Er verfasste mehrere Bücher, seine Texte sind mehrfach preisgekrönt.
Er starb am 21. Mai 2019 im Alter von 92 Jahren in Zug. All seine Artikel, die er im Journal 21 publizierte, sind online abrufbar.