Der Begriff «neutral» leitet sich aus dem Lateinischen ab. «Neuter» bedeutet «keiner von beiden», was später auf «keiner Partei angehörend» ausgeweitet wurde. Die Schweiz ist neutral – aber wie neutral? Und was heisst das heute, neutral zu sein? Der Ukraine-Krieg hat zu solchen und ähnlichen Fragen eine Diskussion in Gang gebracht, die einerseits laut und heftig geführt wird, anderseits Ratlosigkeit hervorruft und gelegentlich den Eindruck eines Verwirrspiels hinterlässt, aus dem schwer herauszufinden ist.
Um dem Begriff «neutral» und dem dazugehörigen Substantiv «Neutralität» Aussagekraft und Form zu geben, um die beiden Wörter mit Sinn zu füllen, bedarf es der Adjektive. Nun war die schweizerische Neutralität seit ihrer Entstehung, 1815 am Wiener Kongress, genau genommen noch nie ein Neutrum: Je nach Zeitumständen, Zwangslagen, politischen Verhältnissen wurde der Begriff «neutral» anders interpretiert. Was aber jetzt, seit Russland die Ukraine mit Krieg überzieht, in Zusammenhang mit der Neutralität hierzulande gesagt, gefordert wird, stellt alle früheren entsprechenden Diskussionen in den Schatten.
Da gibt es, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die rechtliche Neutralität, die es der Schweiz untersagt, kriegführenden Ländern Waffen zu liefern. Oder man spricht von aktiver Neutralität und meint damit, dass die Schweiz in einem Konflikt wie dem Ukrainekrieg mindestens die Stimme erheben sollte, um den Agressor, der Völkerrecht bricht, zu verurteilen. Es gibt die militärische, die ethisch-moralische, die pragmatische, die ökonomische Neutralität. Am Weg in Davos hat Bundespräsident Ignazio Cassis ein neues Adjektiv kreiert; er sprach von der «kooperativen Neutralität» und meinte damit, dass die Schweiz sich mit andern Ländern, die gleiche Werte vertreten, hinsichtlich der Haltung zu Russland, absprechen sollte.
Neutralität: Das Wort ist äusserts dehnbar wie Gummi, lässt sich für verschiedene Absichten und Überzeugungen brauchen – und missbrauchen. Steht für den einen der Begriff als Synonym für Bequemlichkeit und Feigheit, so sieht die andere darin Weitsicht, ja Weisheit. Die politische Neutralität wandelt sich ständig und es kann einen nicht wundern, dass sie in einer Situation, für die der deutsche Kanzler Olaf Scholz den inzwischen arg strapazierten Begriff «Zeitenwende» geprägt hat, besondere Blüten treibt. Noch bewegt sich die Diskussion im Bereich von Substantiv und Adjektiv, in der Sprache. Man darf gespannt sein, ob und wann aus dem Gesagt ein Getan wird.