Eine meiner persönlichen Lebensdevisen ist, dass ich Menschen verstehen möchte. Damit meine ich nicht, dass ich dann mit ihnen einverstanden zu sein hätte. Doch die Regeln und Hintergründe interessieren mich. Warum „wissen“ wir und „handeln“ trotzdem anders? Wie kommt es zum Beispiel, dass mein Freund seinen politisch mir diametral entgegengesetzten Standpunkt verteidigt? Wo wir uns doch sonst ausgezeichnet verstehen? Oder warum meinen am Partygespräch viele, man müsse etwas tun gegen den Klimawandel, um anschließend persönlich immer größere, schwerere, umweltfeindlichere Autos zu kaufen?
Wahrheit, Ehrlichkeit, selektive Wahrnehmungsfähigkeit?
So versuche ich also, zum Beispiel, herauszufinden, warum jemand überzeugt davon sein kann, die Wahrheit zu kennen, oder warum er zu wissen meint, dass er recht hat. Es interessiert mich, über die Frage nachzudenken, warum Ideologen unentwegt danach trachten, für ihr persönliches Gedankenkonstrukt zu missionieren. Immer öfters nehme ich zur Kenntnis, dass Branchenverbände gerissene PR-Agenturen verpflichten, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen, um ihre Macht spielen zu lassen. Mit gezielten Lügen und Angstszenarien verbreiten sie flächendeckend Unwahrheiten.
Und warum verwenden Populisten beträchtliche Millionen Franken aus ihrem privaten Besitz, um die Unwissenden und Naiven aufzuklären? Natürlich nach ihrem persönlichen, eingeschränkten Weltbild. Warum, so frage ich mich weiter, wird ein Top-Manager vor staunendem Publikum von seiner Kanzel herunterpredigen, er sei es wert, in zwanzig Jahren hunderte von Millionen Franken verdient zu haben? Beträge, die er als Angestellter natürlich legal aus der Firmenkasse bezogen hat.
Oder, kann mir jemand erklären, warum bestandene Philosophen ihre Vorgänger kritisieren müssen? Warum einige Wissenschaftler meinen, die Befunde ihrer Kollegen aus früherer Zeit als falsch beiseiteschieben zu müssen, nur weil sie anderer Meinung sind oder Zugang zu neuen Erkenntnissen haben?
Erstaunlich auch, so wundere ich mich, dass politische Parteiexponenten ihre andersdenkenden Mitstreitenden à tout prix vor laufender Kamera demontieren oder ihnen, ohne rot zu werden, Sturheit, Inkompetenz und Verblendung vorwerfen – während sie offensichtlich selbst gemeint sein könnten.
Aber auch wir, was als Gesellschaft so bezeichnet wird, warum belügen wir uns laufend selber? Natürlich nicht die anonyme Gesellschaft, sondern die Menschen sich selbst. In munterer Gesellschaft sind alle einverstanden damit, dass Strom gespart werden muss. Doch zuhause erstrahlt – als Beispiel von vielen - die flächendeckende Weihnachtsgarten- und -hausbeleuchtung Nacht für Nacht vom November bis im Februar. Und die stromfressende Schockbeleuchtung an der Hausfassade schaltet hunderte Mal ein und aus, jede Nacht, bei jedem Windstoß oder Fuchs, der vorbeischleicht.
Wissenschaftliche Antworten
Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse geben Aufschluss, warum Menschen oft - scheinbar unverständlich - denken und handeln. Hier stellvertretend drei Thesen.
Erstens: Aus den kognitiven Wissenschaften, hauptsächlich Neurowissenschaften und Linguistik, kommt die These, hier stark verkürzt, wonach die Beschaffenheit meines Gehirns durch meine persönlichen Erfahrungen in dieser Welt bestimmt wird. Als Kind, als Mitglied meiner Familie, mache ich meine ersten Erfahrungen. Durch Belohnung oder Bestrafung lerne ich zum Beispiel, was (für mich) richtig oder falsch ist. Natürlich geht es hier nicht um Mathe.
Daraus leite ich sukzessive ab, was (für mich) die Wahrheit ist. Deshalb ist die Annahme von objektiven Wahrheiten in der Welt schlicht falsch. Was tue ich, wenn ich denke und kommuniziere? Ich benenne die Dinge so, wie sie für mich in meinem Gehirn vorhanden sind.
Theoretisch gesprochen: Je häufiger ich seit frühester Kindheit gewisse Synapsen in meinem Hirn nutze, desto mehr chemische Rezeptoren für Neurotransmitter (Botenstoff) wandern zu dieser Synapse, sie wird dadurch (und entsprechende Neuronen) gestärkt, während andere allmählich wegen Nichtgebrauchs absterben. Die Neurowissenschaft hat den Slogan geprägt: „Fire togehter, wire together“. Ähnlich wie sie einen anderen Merkspruch propagiert: „Use it or loose it!“ – gemeint ist das Gehirn zu nutzen, auch im hohen Alter.
Zweitens: 80 Prozent unseres Denkens läuft vollkommen unbewusst ab. Ich weiß doch, was ich denke? Nein, ich weiß es eben nicht. Im Laufe der Zeit habe ich mir, durch ein höchst komplexes System, das Denken in Metaphern, Bildern zugelegt. Dieses wiederum ist geprägt von meinen entsprechenden kulturellen Erfahrungen. Ein Beispiel: Es gibt Kulturen, in denen Vergeltung der einzige Weg ist zum Ausgleich der moralischen Konten. „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Anderswo wird Versöhnung bevorzugt. „Vielleicht hast du recht, vielleicht habe ich recht, vielleicht irren wir uns beide.“ In welchen Kulturen wir aufwachsen, darüber haben wir keinen Einfluss.
Deshalb eignen wir uns unterschiedliche metaphorische Konzepte an, um in der Welt zu bestehen. Auch hier ein Beispiel. Fasse ich das Leben eher als Kooperation auf, betrachte ich die Person, mit der ich argumentiere, als Partner: „Ich fordere dich auf“, sage ich etwa, verständnisvoll und einladend. Fasse ich dagegen das Leben als Krieg auf, betrachte ich die Person, mit der ich argumentiere, als Gegner: „Ich schieße los!“, auch wenn ich natürlich nur eindrücklich rede und gestikuliere.
Drittens: Auch politische Programmpunkte lassen sich auf unterschiedliche Moralvorstellungen (Metaphern) zurückführen. Es lassen sich beispielsweise die beiden Familienmodelle nachweisen: das konservative des strengen Vaters und das progressive der fürsorglichen Eltern. Diese Differenzierung ist besonders in den USA ausgeprägt. Hierin widerspiegelt sich auch das grundsätzlich unterschiedliche Verständnis zwischenmenschlichen Umgangs: Autorität und Empathie. Damit ist natürlich nicht gemeint, eine Bevölkerung lasse sich mit einem Strich in zwei polare Gruppen einteilen; vielmehr gibt es auch jene Menschen, die mäandrieren, einmal dies, einmal das.
Das manipulierte Gehirn
Nach diesem rudimentären Ausflug in die Wissenschaft fällt es jetzt nicht schwer, auch zu realisieren, wie im Alltag clevere Machthabende versuchen, „auf leisen Sohlen ins Gehirn“ (Lakoff/Wehling) anderer zu schleichen. Aufgrund meiner Erfahrungen und meines Wissens entwickle ich meinen persönlichen Deutungsrahmen für meine verinnerlichten Metaphern. Anders gesagt, mein Bild wird gerahmt – die Wissenschaft spricht von Frames – und auf diese Weise strukturiert, um jeder Information einen Sinn zu geben, „meinen“ Sinn.
Auch dazu ein Beispiel. Besonders erfolgreiche Kommunikatoren (miss-)brauchen gezielt Frames, um ihrer Meinung zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei hat sich längst erwiesen, dass symbolische Werte punkten, abstrakte Programme hingegen nicht. „Das Boot ist voll“, oder „Wir verteidigen unsere Freiheit und Sicherheit“ und „Kampf dem Terror“, „Wir befürworten Steuersenkungen“ - wir alle wissen augenblicklich, was gemeint ist. Dagegen: „Revision des Asylwesens“, „Agenda einer sozial verträglichen Immigration“ oder „Sicherheitsrelevante Vorkehren gegen staatsfeindliche Elemente“ und „Maßnahmen zur Austarierung des Staatsbudgets“ – diese programmatischen Formulierungen sind schlechte Abstimmungsparolen. Diese Bilder sind sozusagen aus dem Rahmen gefallen.
Welches persönliche Fazit ziehen wir?
Allmählich dämmert uns, dass wir Menschen deshalb unter dem gleichen Wort, der gleichen Botschaft, demselben Bilde völlig Unterschiedliches verstehen. „Für eine sichere Zukunft in Freiheit“, so wird geworben im Extrablatt der SVP, heißt hier „Schweizervolk, erwache! Auf in den Kampf gegen die fremden Richter in Brüssel!“ (Kriegsmetapher) – dieser Aufruf ist sogar ehrlich gemeint. Aus der persönlichen Erfahrungswelt.
Für andere liegt die Zukunft der Freiheit ganz woanders. Zwar schätzen sie die Freiheit ebenso, doch sie verstehen darunter ein anderes Zukunftsbild. „Das Leben in einer Demokratie, in der Menschen unterschiedlichster Meinungen in Freiheit zusammenleben, sich organisieren und versuchen, sich gegenseitig zu verstehen“, zum Beispiel (Kooperationsmetapher). Auch dies als Reaktion auf ihre persönliche Erfahrungswelt. Wir realisieren jetzt, dass sogar ein und dasselbe Wort mit völlig unterschiedlichen Inhalten aufgefüllt wird.
Was ist richtig, was falsch? Was ist die Wahrheit? Unterschiedliche frühkindliche Umgebung und lokale Kultur konditionieren für jeden Menschen seinen Deutungsrahmen – und der ist eben der richtige. Darin entwickelt sich das individuelle, metaphorische Konzept – es gibt deren so viele, wie es Menschen gibt. Und daraus resultieren zum Beispiel konservative oder progressive Lebenseinstellungen.
Wie kann ich verstehen?
Ich kann nicht für Andere sprechen. Meine Erfahrungswelt, meine Denkmetaphern sind persönlich geprägt. Deine, Ihre auch. Was bleibt zu tun?
Nach langem und gründlichem Bedenken könnte ich zum Schluss gelangen, dass ich das verstanden habe. Dann ist es ein kleiner Schritt, Andersdenkenden Verständnis entgegenzubringen. Doch ist muss verstehen wollen. Dann könnte sich unser „System“ verändern.
Unter System verstehe ich zum Beispiel: sich gegenseitig blockierende politische Parteien, überhebliche, unbelehrbare Finanzinstitute, die nicht nachhaltig handelnde Gesellschaft. Dahinter steht überall und zu jeder Zeit – der einzelne Mensch.