Der Darmstädter Professor für Soziologie, zudem studierter Philosoph und Psychologe, Gerhard Gamm, seziert unsere Sehnsüchte, Stimmungen und Geisteshaltungen in Anbetracht der merkwürdigen Tatsache, dass die Religion in unserer modernen Welt entgegen vielen Prophezeiungen nicht untergegangen ist. Allerdings kann man auch nicht behaupten, dass sie weiter so existiere wie in den Zeiten vor unserer technisch-wissenschaftlichen Welt. Sie hat sich verändert und erleidet zumindest innerhalb Europas in Gestalt der Kirchen einen Schwächeanfall nach dem anderen.
Der rasende Stillstand
Aber tot ist die Religion nicht. Sie meldet sich, wie Gamm ausführt, als „metaphysisches Bedürfnis“. Hinter diesem etwas seltsamen Ausdruck steht die Erfahrung, dass unsere Welt nicht so perfekt ist, wie sie eigentlich nach den Plänen ihrer Konstrukteure und Betreiber sein sollte. Selbst in den vergleichsweise reichen und sicheren Gesellschaften stellt sich bei den meisten Menschen ein Gefühl des Mangels ein, eines Mangels an Sinn.
Es gibt ein Gefühl des Leerlaufs und es gibt ein Gefühl dafür, dass der Fortschritt nicht das hält, was mit ihm versprochen worden ist. Zu viele Dinge laufen schief – von der Wirtschaftskrise, sozialen Verwerfungen, Kriegen bis zum Klimawandel. Und alle schönen beziehungsweise beruhigend klingenden Worte der Wirtschaftsführer und Politiker samt ihres Aktionismus ändern daran nichts. - Paul Virilio hat das in einem Buch als "rasenden Stillstand" (Hanser 1992) beschrieben.
Das "metaphysische Bedürfnis"
Der Einzelne, der dies spürt, fühlt sich fremd in dieser Welt. Er sucht für sich Antworten auf die Frage nach seiner Aufgabe und vor allem nach dem Sinn seines Lebens. Das ist das „metaphysische Bedürfnis“. Es wird befriedigt, etwa indem man sich einer Bewegung anschliesst oder intensiv am sozialen Leben teilnimmt. Eine solche Konstellation, schreibt Gerhard Gamm, „verleiht einem Flügel, weil man bewusst oder unbewusst weiss, warum man etwas tut“.
Das aber kann sich als Falle erweisen. Denn es zeigt sich immer wieder, dass hehre Ziele nicht erreicht werden und die edelsten Bewegungen zu übelsten Praktiken greifen. Weil dies seit Anbeginn der Menschheit eine wiederkehrende Erfahrung ist, haben Philosophen wie Hegel und Nietzsche Kritik an der Vorstellung von einem Sinn in unserem Leben geübt. Auch Gamm konstatiert: „Die säkularen Heilsversprechungen haben ihr Soll nicht annähernd erfüllt.“
Provokation als Befreiung
Auch die moderne Kunst kann als Sinnkritik gedeutet werden. Ihr Aufstand gegen unsere Sehgewohnheiten etwa im Kubismus oder ganz allgemein in der abstrakten Malerei, ihre Lust an der Provokation und am Zerbrechen von Konventionen markiert immer wieder die Tatsache, dass unsere Gesellschaft bei weitem nicht das ist, wofür sie sich ausgibt. Unsere Gesellschaft ist nicht edel, sondern roh, aber es gehört zu ihrem Gang, den Blick auf diese unliebsamen Tatsachen zu verstellen.
Es ist ein Akt der Befreiung, gegen den vorgetäuschten Sinn anzugehen. Doch in der Rebellion liegt kein Heil. Wo aber lässt sich Halt finden? Die Religionen offerieren ihn. Und wenn man sich klarmacht, wie prekär heute die Lebenssituation vieler Menschen ist, verwundert es nicht, dass gerade Sinnangebote fundamentalistisch ausgerichteter religiöser Strömungen auf grosse Nachfrage stossen. Mit einem Schlag sind zwei Probleme gelöst: Der Sinn des eigenen Lebens steht unverrückbar fest, und man gehört einer starken und einmütigen Gemeinschaft an. Die einzige Bedingung dafür ist, dass der Verstand abgeschaltet wird. Denn sonst kann „das grosse Illusionstheater der Religion“ nicht funktionieren.
Der Mensch als "Heiliger
Was aber, wenn man diesen Weg nicht beschreiten will? Hier kommt bei Gamm der soziologische Blick ins Spiel. Dieser Blick enthüllt höchst aufschlussreiche Verschiebungen. Es zeigt sich nämlich, dass die ursprünglich transzendenten Elemente der Religion wie Gott, Seele und Unsterblichkeit im Zeichen unseres technisch-wissenschaftlichen Weltbildes ins Diesseits verlegt werden, aber an ihrem hohen Rang nichts einbüssen.
Die Bedrohtheit des Menschen in der technisch-wissenschaftlichen Welt liefert die Dynamik für diese Verschiebungen. Was ist der Mensch aus naturwissenschaftlicher Sicht? Menschen seien „Hautsäcke voller Biomoleküle“, zitiert Gerhard Gamm den ehemaligen Direktor am MIT, Rodney Allan Brooks. Das klingt zynisch, aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass sich aus naturwissenschaftlicher Sicht die Würde, die Freiheit oder die Einzigartigkeit des Menschen nicht erweisen lässt. Daher ist es nötig, diese Qualitäten geradezu emphatisch gegen die Trivialisierung des Menschen in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation zu stellen.
Gamm sieht seit Hegels Zeiten eine „Sakralisierung der Person“ am Werke, die mit der „Vertiefung der Subjektivität“ einhergeht. Der Mensch selber ist in der säkularen Welt zum letzten „Heiligen“ geworden. Ein Trendforscher würde sagen: Der Trend zur Profanisierung setzt den Gegentrend zur Sakralisierung frei.
Religion ist Privatsache
Das klingt abstrakt, lässt sich aber an einem Thema wunderbar beobachten: den Menschenrechten. Gerade weil Menschen weltweit de facto erniedrigt, gefoltert und massenweise ermordet werden, bekommt die Verteidigung der Menschenrechte eine immer höhere Bedeutung. Man sieht hier sehr gut die Plausibilität: Wenn der Mensch sich nicht selbst aufgeben will, muss er für sich einen Wert einsetzen, der nicht mehr verhandelbar ist.
Das geht nur über die Erhebung der Subjektivität zum höchsten Prinzip. Das hat unter religiösen Gesichtspunkten gleich mehrere Konsequenzen. So ist es normal und üblich, dass sich jeder aus dem gut bestückten Korb der Weltreligionen seine eigene Religion zusammenbastelt. Man nimmt die Ingredienzien, die einem einleuchten und gefallen. Religion ist, so Gamm, buchstäblich zur „Privatsache“ geworden. Für die etablierten Kirchen hat das wiederum zur Folge, dass deren Normierung von Glaubensaussagen als unerträglicher Widerspruch zur subjektiven religiösen Ekstase erlebt wird. Die Kirchen stehen gegen die Privatreligion.
Der Blick auf die vorletzten Fragen
Eine andere Verschiebung, die Gamm beobachtet, liegt im Wechsel des Fokus von den „letzten Fragen“ im Jenseits auf die „vorletzten Fragen“ im Diesseits. So gibt es einen Blickwechsel von der Frage nach dem ewigen Leben zum Thema des Sterbens. Das Interesse liegt heute auf dem „menschenwürdigen Sterben“. Die Frage, was im Jenseits ist oder nicht ist, interessiert die meisten Menschen nicht mehr, weil sie sich im Rahmen des modernen Weltbilds nicht beantworten lassen.
Aber es ist nicht so, dass nur Fragen, die sich auf das Jenseits beziehen, unbeantwortbar sind. Ganz im Gegenteil zeigt sich, dass die Wissenschaft, je mehr sie über das physische Leben weiss, desto weniger über schlüssige Definitionen verfügt. So lässt sich wissenschaftlich die Frage nach dem Lebensbeginn nicht beantworten. Denn die Grenzen sind fliessend, und eine scharfe Definition ist eine Glaubenssache geworden. Gerhard Gamm resümiert:
"... so ernst wieder auch nicht"
„Unter den reflexiven Bedingungen der Moderne brechen metaphysische Fragen erneut auf. Sie stellen sich jedoch neu und anders: Ab wann können oder sollen wir vom Anfang des 'menschlichen' Lebens sprechen? Wann ist ein Mensch wirklich tot? An welchem Punkt sollten wir einer grenzenlosen Gerechtigkeit unüberschreitbare Grenzen setzen?“
Der Essay von Gerhard Gamm - der natürlich viel ausführlicher und differenzierter ist als hier resümiert - verbindet analytischen Scharfsinn mit einem tiefen Verständnis unseres Lebensgefühls. Und der Philosophie. Mehrfach bezieht sich Gerhard Gamm auf Theodor W. Adorno. Der hat zur Ernsthaftigkeit der philosophischen Auseinandersetzung mit den Ansprüchen des Zeitgeistes und eben auch der Religion geschrieben: Die Philosophie „ist das Allerernsteste, aber so ernst wieder auch nicht“.
Übrigens sind es diese Perlen, die Letttre International immer wieder lesenswert machen.