Die Argumentation, die syrische Regierung habe einen Massenmord mit Chemiewaffen verübt, weil nur sie – und nicht die Aufständischen – über solche Waffen verfügen, ist eine absurde Argumentation. Im März 1995 wurde in der U-Bahn von Tokio ein verheerender Terroranschlag mit Sarin verübt. Die Täter transportierten das Gift in Kunststoffbeuteln, die sie in Zeitungspapier eingewickelt hatten. Unmittelbar vor dem Aussteigen bohrten sie Löcher in die Beutel, um das flüssige Sarin freizusetzen.
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, chemische Waffen zum Einsatz zu bringen. Man braucht weder Artillerie noch Raketen oder Flugzeuge dazu. Granaten, die den Kampfstoff enthalten − zum Beispiel Munition von kleinen oder mittleren Granatwerfern, wie sie Infanterie-Einheiten benutzen – können in jedem Rucksack oder im Kofferraum eines Autos transportiert werden. Man muss sie nicht einmal verschiessen, es genügt, sie mit einem Schraubenzieher auf Sprengaufschlag zu stellen und irgendwo vom Dach auf die Strasse oder in einen Innenhof zu werfen.
Allzu frühe Schuldzuweisungen
Bereits kurz nach dem 21. August, dem Tag des Giftgasangriffs in Damakus, war aus Washington zu hören, das Assad-Regime sei verantwortlich. In den folgenden Tagen häuften sich die Schuldzuweisungen auch von Seiten der Regierungen in Paris und in London. Aussenminister Kerry erklärte schliesslich am 30. August, es bestehe kein Zweifel, dass die Regierung in Damaskus einen Massenmord mit Giftgas begangen habe. Die Faktenlage sei „so klar wie zwingend.“
Kerry bezog seine Überzeugung laut eigenen Angaben aus Beweisen, die die Geheimdienste gesammelt hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren die ABC-Experten der Uno noch bei der Arbeit und hatten keinerlei Resultate ihrer Untersuchung publik gemacht. Das heisst: Washington wie auch Paris und London demonstrierten mit Nonchalance, dass die Arbeit der Experten der Vereinten Nationen keine Bedeutung mehr hatte. Der Angriff schien beschlossene Sache.
In den Stunden und Tagen nach Kerrys Auftritt konnte man mit Erstaunen feststellen, wie schnell die amerikanische Darstellung von den meisten Medien akzeptiert wurden. Die Lufthoheit der USA bei der Bildung der Mainstream Opinion scheint ungebrochen. Nur wenige Journalisten wagten laut und deutlich in Zweifel zu ziehen, was da im Brustton der Überzeugung aus Washington rüberkam.
Die Neue Zürcher Zeitung stellte die berechtigte Frage, ob es wohl ein Zufall sei, dass die Gas-Angriffe sich in dem Moment ereignen, als das ABC-Expertenteam der Uno seine Arbeit aufnimmt. Und dann auch noch fast in Sichtdistanz zu dem Hotel, wo das Team einquartiert ist: „So krud die Logik klingt: In diesem Krieg hätten viele Parteien Interesse daran, der Welt angebliche Greueltaten der gegnerischen Seite vorzuführen.“ (NZZ 26.8.2013)
Und im Zürcher Tagesanzeiger äusserte der frühere UNO-Chemiewaffen-Inspektor Heiner Staub seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Behauptungen: „Die Amerikaner haben schon x-mal behauptet, sie wüssten genau, was passiert ist, 2003 ja auch im Irak, und am Ende war es nicht wahr. Die angeblichen Informationen, auf die Kerry und Biden verwiesen haben, basieren wohl auf Geheimdienst-Informationen, und die sind zweifelhaft.“ (Tagesanzeiger 29. 8.2013)
Auch die Beweise, die von Telefongesprächen stammen sollen, die der amerikanische Geheimdienst NSA aufgenommen haben will, sind mit Vorsicht zu betrachten. Selbst wenn solche Aufnahmen authentisch wären und tatsächlich von den Personen stammten, die der Geheimdienst angibt, ist festzuhalten, dass einzelne Sätze aus einem abgehörten Telefongespräch viele Interpretationen zulassen, wenn man sie aus dem Zusammenhang reisst. Und Telefongespräche über das Thema Giftgas wurden wohl in den letzten Tagen, Wochen und Monaten in Regierungskreisen in Damaskus täglich und zahlreich geführt. Pikant an der Sache ist im übrigen, dass es ausgerechnet die National Security Agency ist, die jetzt plötzlich ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen kann, dieselbe NSA, die durch die Enthüllungen von Edward Snowden wegen skrupelloser Abhörpraktiken in Verruf geraten ist.
Wem nützt der Gasangriff?
Ich stelle mir – wie schon wiederholt im journal21 – die Frage, wem der Chemiewaffen-Einsatz in dieser Situation genützt hat. Was hätte Assad mit einem Giftgas-Angriff, bei dem allein mehr als 400 Kinder starben, militärisch gewinnen können? Nicht viel. Was könnte er verlieren? Viel oder alles. Er würde sich in der Bevölkerung von Damaskus verhasst machen. Und er konnte sich nur allzu gut ausrechnen, dass die Welt sofort mit dem Finger auf ihn zeigen würde. Was ja dann auch tatsächlich so abgelaufen ist.
Die Aufständischen dagegen wussten nur allzu gut, dass ein Terrorangriff mit Gas das Mittel sein kann, um den Westen zum Eingreifen zu bringen. Sie mobilisierten in den Tagen nach dem Gasangriff bereits für eine Grossoffensive. Mehrere tausend Djihadisten sollen aus Jordanien nach Syrien eingerückt sein, um Reihen der internationalen islamistischen Kombattanten zu verstärken (Tagesanzeiger 2.9.2013). Die Möglichkeit, dass der Gas-Anschlag eine Inszenierung ist, an dem westliche Geheimdienste und Aufständische beteiligt sind, kann nicht ausgeschlossen werden. Ob man die Wahrheit je erfahren wird, ist ungewiss.
Ein Granaten-Angriff auf den Markale-Marktplatz in Sarajewo war im August 1995 für die NATO Anlass, die Operation Deliberate Force zu beginnen, den Luftkrieg gegen Serbien. Artillerieoffiziere der Blauhelm-Truppen wiesen später nach, dass der ballistischen Logik zufolge die Granate nicht von den bekannten serbischen Stellungen geschossen wurde. Der Aufschlagswinkel der Granaten legte nahe, dass die Granate aus der von muslimischen Bosniaken beherrschten Zone abgefeuert oder sogar von Agents Provocateurs vom Dach geworfen wurde. Was sich wirklich abgespielt hat, wird man allenfalls erfahren, wenn einer der Beteiligten vor seinem Tod das Schweigen bricht.
Kein Zufall dürfte es sein, dass der Gas-Anschlag im Timing so optimal kam, dass er genau dann publik wurde, als das Kinderhilfswerk und die Flüchtlingsorganisation der UNO mit Meldungen über eine Million vertriebener syrischer Kinder weltweit Emotionen verursachten. Seit Beginn des Krieges machen die meisten Medien mit grösster Selbverständlichkeit die Regierung in Damaskus verantwortlich für Vertreibungen, ethnische „Säuberungen“ und Fluchtbewegungen, obwohl die sogenannten Rebellen sie sicher mit der gleichen Brutalität betreiben wie regierungsnahe Milizen (vgl. „Syrien: Ein Bild erzählt eine Story“ journal 21, 17.5.2013)
Die grösste Massenflucht seit Beginn des Konfliktes ereignet sich seit Ende August in den Kurdengebieten. Mehr als 30‘000 Kurden flüchteten innert Stunden aus Syrien in den Irak. Tagesschau-Beiträge zeigten lange Reihen von Frauen, Männern und Kindern. Dass sie vor dem Zugriff der islamistischen Al-Nusra-Einheiten flohen, wurde in den Beiträgen oft erst am Schluss in einem kleinen Nebensatz erwähnt.
Sand im militärischen Getriebe
Der militärische Vergeltungsschlag gegen Assad scheint noch am Donnerstag 29. August beschlossene Sache, da passiert etwas, das niemand erwartet hatte. Ein politischer Blitzschlag, der die ganze politisch-militärische Maschinerie in London, Washington und Paris momentan zum Stillstand bringt. In der Nacht auf Freitag, 30. August, lehnt das britische Unterhaus mit 285 gegen 272 Stimmen einen Angriff auf Syrien ab. Premierminister David Cameron erleidet eine Niederlage, wie sie in der Geschichte des britischen Parlamentarismus nicht oft vorgekommen ist.
„It is very clear tonight that the british parliament reflecting the views of the british people does not want the use of military action. I get that and the government will act accordingly,“ sagte ein sichtlich getroffener Premierminister nach Verkündung des Abstimmungsergebnisses unter dem tosenden Jubel seiner Gegner im House of Commons.
Die Unterhaus-Debatte war aufschlussreich. Cameron wiederholt dort ein ums andere Mal, es gehe nur um eine Antwort auf den Gebrauch von Chemiewaffen, es gehe nicht um Krieg, es gehe nicht um die Entsendung von britischen Soldaten. Er steigert sich in seinen Antworten vor dem House of Commons von Minute zu Minute ins Missionarische. Den Einsatz der Gaswaffe macht er zum Sündenfall der Menschheit. In dieser Logik stellt er den Angriff auf die Regierung in Syrien als einen unausweichlichen Akt dar, einen Akt, von dem die moralische Glaubwürdigkeit der Weltgemeinschaft abhänge. Und dies – wohlgemerkt – zu einem Zeitpunkt, da nicht einmal die UNO-Inspektoren das Land verlassen hatten, geschweige denn überhaupt den Einsatz von Giftgas offiziell bestätigt hatten.
Ein Parlament erteilt eine Lektion in Demokratie
Der Eifer, in den sich Cameron im Lauf der Debatte steigerte, verstärkte nur den Verdacht, dass hier ein militärischer Angriff beschlossene Sache war, lange bevor die sogenannten Beweise für die Täterschaft vorlagen. Und das erinnerte dann viele Abgeordnete nur allzu sehr an die Lage 2003 vor Beginn des Irak-Krieges. Oppositionführer Ed Miliband ist für wahr kein begnadeter oder mitreissender Redner. Er brachte aber Argumente vor, die offenbar nicht von der Hand zu weisen waren:
„Evidence should precede decision, not decision precede evidence.“
Erst wollen wir die Beweise prüfen, dann erst werden wir entscheiden, aber nicht umgekehrt.
Der Eclat ist möglicherweise eine Katastrophe für die politische Zukunft von Cameron, mit Sicherheit aber auch ein schwerer Schlag für die Regierung in Washington. In der „Koalition der Willigen“ ist der wichtigste Partner abhanden gekommen, bevor sie zustande kommt. Im Weissen Haus in Washington dürfte man die Londoner Unterhaus-Debatte mit Verblüffung verfolgt haben. Das Scheitern Camerons führte mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass Barack Obama einen Rückzieher machte. Er verkündet am Wochenende des 31. August, er werde den Kongress befragen, bevor er über eine Bombardierung Syriens entscheide. Der Kongress kommt am 9. September aus der Sitzungspause zurück. Bis dahin werden Befürworter und Kritiker militärischer Aktionen ein Feuerwerk von Beweisen und Gegenbeweisen, Argumenten und Gegenargumenten entfachen.
Die Ablehnung des Parlaments sollte in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie Business as usual sein. Die Regierung will Krieg, das Parlament macht nicht mit. Und dennoch ist diese Entscheidung eine politische Sensation. Denn wenn man bedenkt, mit welchen faulen Taschenspielertricks dem US-Kongress, den Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit vor zehn Jahren der Angriff auf den Irak verkauft wurde, dann hat das Parlament in London diesmal der Welt eine Lektion in Demokratie erteilt. Es hat sich geweigert, sich von der Exekutive erneut einen militärischen Angriff auf ein arabisches Land diktieren zu lassen. Der kühle Menschenverstand einer Mehrheit hat sich durchgesetzt. Man könnte auch sagen, dass sich bei vielen Volksvertretern das Langzeitgedächnis eingeschaltet hat. Sie haben ihre Lektion gelernt.
Sie kommen nicht mehr umhin, der Kriegsmüdigkeit und der Skepsis in der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Briten wie auch Amerikaner sind in ihrer Mehrheit nicht mehr bereit, leichtfertig militärische Interventionen zu akzeptieren. Es hat sich die Erkenntnis breit gemacht, dass militärische Angriffe westlicher Militärbündnisse im Nahen Osten oder in Südostasien nicht halten, was sie versprechen. Freedom, Democracy, Nation building… rhetorische Textbausteine, von denen in der Realität in Afghanistan, im Irak, in Libyen wenig übrig bleibt. Auch bei den Falken unter den Politikern beginnt sich die Ereknntnis durchzusetzen, dass Demokratisierung ein langwieriger Prozess ist, der über Generationen dauern kann. Machtwechsel mit Luftangriffen bringen nicht die gewünschten Resultate.
Obama zieht die Notbremse
Der legendäre Recherchierjournalist Bob Woodward (Watergate) hat mehr als hundert Schlüsselfiguren und Keyplayers zum Afghanistan-Krieg befragt, darunter Offiziere und Geheimdienstleute aus dem Umfeld des Präsidenten. Sein Buch „Obamas wars“ zeigt das Bild eines jungen und militärisch unerfahrenen Präsidenten, der in seinem ersten Amtsjahr wie ein Goldfisch in einem Haifischbecken umgeben ist von abgebrühten Geheimdienst-Leuten und altgedienten Generalstabsoffizieren. Jede Fraktion in diesem Intrigentümpel will ihre Felle ins Trockene bringen und versucht, Obama auf ihre Seite zu ziehenden. Woodward illustriert dies am Beispiel des „Surge“, der umstrittenen Aufstockung von 30'000 Mann in Afghanistan, die Obama in seinem ersten Regierungsjahr beschloss.
„Es ist die härteste Entscheidung, die ich als Präsident zu fällen habe“, sagte Obama zu Woodward in einem Inteview im Juli 2010. „Wenn Sie zum ersten mal einen Befehl unterzeichnen, der junge Männer und Frauen aufs Schlachtfeld schickt, dann spüren Sie das Gewicht dieser Entscheidung.“
Bleibt noch die Frage, wie weit ein amerikanischer Präsident dort, wo es um Krieg oder Frieden geht, überhaupt in der Lage ist, sich aus der Umklammerung des gigantischen militärisch-industriellen Apparates zu lösen – diese Frage hat Woodward dem Präsidenten Barack Obama nicht gestellt, oder zumindest schreibt er davon nichts in seinem Buch. John F. Kennedy hätte vielleicht eine Antwort gewusst.