In den vergangenen Wochen sind in der Ukraine einige aufsehenerregende Entscheidungen zur Aufdeckung und Bekämpfung der Korruption gefallen. Die Skepsis, ob es Präsident Selenskyj ernst meint mit seinem Einsatz gegen dieses Grundübel, ist aber noch nicht beseitigt. Besonders heikel ist für ihn der Fall des inzwischen in Untersuchungshaft genommenen Oligarchen Kolomoiski.
Zu den schlagzeilenträchtigen Fällen der Korruptionsbekämpfung in der Ukraine zählte Anfang September die Absetzung von Verteidigungsminister Resnikow durch Präsident Selenskyj. Ihn haben verschiedene Korruptionsfälle in seinem Ministerium zu Fall gebracht, in die er offenbar nicht persönlich verwickelt war, wohl aber sein Stellvertreter und andere hohe Beamte, gegen die Resnikow nicht eingeschritten war. Einer der Fälle, der schon im Februar von einem Journalisten aufgedeckt wurde, betraf die mehr als dreifache Bezahlung des Marktpreises für Eier, die das Ministerium für die Nahrungsmittelversorgung von Soldaten einkaufte.
Aufdeckung prominenter Bestechungsfälle
Einen Tag später verhaftete der ukrainische Geheimdienst SBU den Oligarchen Ihor Kolomoiski in seinem Privathaus in der südkrainischen Grossstadt Dnipro. Kolomoiski war zeitweise der zweitreichste Bürger in der Ukraine und vor Selenskyjs Wahl zum Präsidenten auch enger mit diesem verbunden. Er wurde jetzt von einem Haftrichter wegen des Verdachts der Verschiebung illegaler Gelder ins Ausland vorläufig zu zwei Monaten in Untersuchungshaft genommen.
Im August hatte Selenskyj die Schliessung und Überprüfung sämtlicher Rekrutierungsbüros in der Ukraine verfügt. In diesen Ämtern war, was inoffiziell schon länger bekannt war, ein florierender Handel mit Dienstuntauglichkeitsbescheinigungen und Auslandreisegenehmigungen für Personen im militärischen Dienstalter betrieben worden. Für solche Dokumente sollen Bestechungsgelder bis zu 15’000 Dollar bezahlt worden sein.
Schon im Mai war der Präsident des ukrainischen Obersten Gerichts verhaftet worden. Er soll ein Bestechungsgeld von fast drei Millionen Dollar eingesteckt haben. Und zu Beginn dieses Jahres hatte Selenskyj im Zusammenhang mit Bestechungsfällen eine ganze Reihe von Ministern und stellvertretenden Ministern entlassen.
Kolomoiski – Selenskyjs früherer Mentor und Geschäfspartner
Der spektakulärste und für die Glaubwürdigkeit von Selenskyjs Einsatz gegen die Korruption wohl wichtigste Fall ist das auch international vielfältig vernetzte Dossier Kolomoiski. Der neben dem aus dem Donbass stammenden Tycoon Rinat Achemtow zeitweise reichste Mann der Ukraine verfügte über ein schwer durchschaubares Konglomerat von Industriefirmen, Finanzunternehmungen und Medieneinrichtungen. Ihm gehörte der früher führende Fernsehsender 1+1, der die höchst populäre Unterhaltungsserie «Diener des Volkes» produzierte, in der Selenskyj einst die Hauptrolle spielte und so zu einer national bekannten Figur wurde.
Kolomoiski lebte zwischen 2000 und 2014 vorwiegend in seiner Residenz in Genf, Selenskyj soll ihn dort mehrfach besucht haben – offenbar im Zusammenhang mit seinen Fernsehprojekten, später vielleicht auch mit seiner überraschenden Präsidentschaftskandidatur. 2016 wurde die von Kolomoiski kontrollierte «PrivatBank», das grösste Geldhaus der Ukraine, zwangsverstaatlicht, nachdem Prüfungen ans Licht brachten, dass der Oligarch zusammen mit einem Geschäftspartner die Bank um Milliardenbeträge geplündert hatte.
Kolomoiski, der 2014 während der von Putin angefachten Separatisten-Rebellion im Donbass als Gouverneur der Provinz Dnipropretowsk eine aktive Rolle zur Verteidigung gegen die Rebellen gespielt hatte, setzte sich nach der Aufdeckung des Bankenskandals wieder ins Ausland ab und lebte hauptsächlich in Israel. Er besass damals neben der ukrainischen auch die zypriotische und israelische Staatsbürgerschaft.
Verdächtige Rückkehr in die Ukraine
Nach Selenskyjs Wahl zum Präsidenten 2019 kehrte Kolomoiski wieder in die Ukraine zurück, was begreiflicherweise den Verdacht weckte, dass ihm der neue Staatschef gewisse Sicherheiten zugesichert habe und der frühere Geschäftspartner sich über diese Verbindung erneut in der Politik mitzumischen versuche. Solche Spekulationen verloren aber einiges an Virulenz, nachdem im vergangenen Jahr Meldungen bekannt wurden, dass Selenskyj in einem Dekret Kolomoiski und mehreren anderen Personen im Oligarchenumfeld die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen haben soll. Weshalb sich der frühere Mentor des Präsidenten bei seiner Verhaftung dennoch weiter an seinem ukrainischen Wohnsitz aufhalten konnte, zählt zu den vielen offenen Fragen in dieser komplexen Causa.
Selenskyj ist sich zweifellos bewusst, dass insbesondere die weitere Entwicklung im Fall Kolomoiski im In- und Ausland intensiv beobachtet wird. Er wird schon heute weitherum als besonders relevanter Testfall für die Glaubwürdigkeit seines Kampfes gegen das Krebsübel Korruption eingestuft, das in der Ukraine wie in den meisten früheren Nachfolgestaaten des Sowjetimperiums weit verwurzelt ist. Kolomoiski ist auch in den USA und in London im Zusammenhang mit kriminellen Finanzpraktiken angeklagt. Im Kontext mit der ihm vorgeworfenen Plünderung der PrivatBank hat die Schweiz den ukrainischen Strafbehörden verschiedentlich Rechtshilfe gewährt. Die Schwester des Oligarchen hatte sich um die schweizerische Staatsbürgerschaft beworben, was die Behörden wegen ihrer Verbindungen zum Netzwerk ihres dubiosen Bruders ablehnten und was vom Bundesgericht bestätigt wurde.
Intensive Beobachtung im Westen
Aber wird Selenskyj den Mut und die Durchsetzungskraft aufbringen, dafür zu sorgen, dass sein früherer Geschäftspartner sich nach Ablauf der Untersuchungshaft einem überzeugenden öffentlichen Gerichtsverfahren stellen und möglicherweise für lange Zeit hinter Gittern bleiben muss? An Skeptikern fehlt es nicht. Die Tatsache, dass es der vom Präsidenten kontrollierte Geheimdienst SBU war, der Kolomoiski Anfang September verhaftet hat und nicht das enger mit europäischen Behörden kooperierende Antikorruptionsbüro NABU, hat einige Zweifel aufkommen lassen. Hinzu kommt, dass als Verhaftungsgrund nur eine verhältnismässig geringe Deliktsumme von 12,6 Millionen Euro genannt wird, und von der Veruntreuung von 5,5 Milliarden, die der Oligarch und sein Partner bei der PrivatBank veruntreut haben soll, nicht die Rede ist.
Sollte der zwielichtige Oligarch Kolomoiski in der Ukraine straffrei oder mit einem auffallend glimpflichen Gerichtsurteil davonkommen, dann werden mit hoher Wahrscheinlichkeit im Westen jene Stimmen lauter erschallen und mehr Echo finden, die die milliardenschwere Waffen- und Finanzhilfe für die von Russland überfallene Ukraine als blosse Futtertröge für korrupte Kleptokraten denunzieren.
Vor solchen vorschnellen Simplifizierungen sollte man sich indessen hüten. Zwar steht die Ukraine auf der Korruptionsliste von Transparency International für das Jahr 2022 mit Rang 116 (von insgesamt 180 Ländern) auf dem zweithintersten Platz in Europa. Aber immerhin hat sie sich gegenüber dem Ranking des vorhergehenden Jahres um einige Plätze verbessert und schneidet deutlich besser ab als der russische Aggressor (Rang 137).
Und anders als in Putins Diktatur, wo Antikorruptionskämpfer wie Nawalny mit totaler Willkür im Gulag versenkt werden, leistet die ukrainische Presse bedeutende Beiträge zur Aufdeckung korrupter Praktiken. Es war der Journalist Juri Nikolow, der in Zusammenarbeit mit der kämpferischen Wochenzeitung «Serkalo Nedeli» mit seinen Recherchen die Korruptionsfälle im ukrainischen Verteidigungsministerium publik machte, die schliesslich Selensyj dazu zwangen, den bisherigen Amtsinhaber Resnikow abzusetzen.