Das fragt sich Deutschland seit Bestehen der Islamischen Republik. Einst erfand man für die Beziehung zum Iran die Bezeichnung „kritischer Dialog“. Davon spricht heute zwar niemand mehr. Doch Europa muss bald erneut seinen Umgang mit dem Iran definieren und benennen. Denn eine Reihe von Staaten mit Trumps USA an der Spitze haben sich längst auf den Weg gemacht – Richtung Regime-Change.
Es gibt Totgeborene, die das Leben prägen. Jahre, Jahrzehnte danach sucht man immer wieder nach Gründen für die Fehlgeburt. Deshalb vergisst man weder das Geburtsdatum noch die Eltern des toten Kindes. Der „kritische Dialog mit dem Iran“ war eine solche Fehlgeburt.
Man könnte sich fragen, wer um Himmels Willen sich heute noch für diese eigenartige Totgeburt interessiert? Wem nutzt es zu wissen, warum Deutschland, warum Europa vor fast dreissig Jahren ihrer Beziehung zum Iran diesen Namen gaben?
Die Antwort ist ganz einfach: Weil man heute immer noch nicht weiss, ob und wenn ja, wie man einen Dialog mit dem Iran führen könnte. So gesehen ist man heute noch am Ausgangspunkt, genau da, wo man vor dreissig Jahren war. Immer noch sucht Deutschland, sucht Europa einen gangbaren Weg in Richtung Iran.
Und heute, wo die Umgebung noch unübersichtlicher geworden und der Weg noch schwerer zu finden ist, ist es notwendig, zumindest die Richtung zu kennen. Dringender noch als vor 30 Jahren braucht man heute einen Kompass, weil andere wichtige Länder, mit Trumps USA an der Spitze, sich längst auf den Weg gemacht haben. Auf einen Weg, an dessen Ende ein Regime-Change in Teheran steht.
Auf Zehenspitzen
Und das Feld für die Ächtung der Islamischen Republik scheint vorbereitet zu sein:
Am 18. Januar 2019 setzte die Nachrichtenagentur Reuters einen Bericht über den Iran unter dem vielsagenden Titel ab: „ Europe’s patience with Iran wears thin, tiptoes toward Trump“. Danach schrieben wichtige Blätter, dass Europa sich bald entscheiden müsse, und alle waren dabei: Spiegel, NZZ, FAZ, Le Monde und die Times.
Geht die europäische Geduld mit dem Iran tatsächlich zu Ende? Und wenn ja, was kommt danach? Oder will Deutschland und mit ihm ganz Europa sich auf Trumps Pfad nach Teheran begeben, Richtung Regime-Change? Offenbar ja, aber nur auf Zehenspitzen – so wie Reuters es schreibt.
Deutschland befand sich vor dreissig Jahren schon einmal in solch einer dramatischen Situation, wo man zwischen Baum und Borke einen Ausweg suchen musste und schliesslich zum „kritischen Dialog“ gelangte. Die Koordinaten sind die gleichen: Die USA und ihre Verbündeten in der Region sind heute wie damals auf Konfrontationskurs mit dem Iran, während Europa immer noch einen Weg zum Dialog sucht.
Aufwühlend und spannungsreich waren die Jahre, als ein langer, mörderischer Krieg mit Hunderttausenden Toten an der Grenze zwischen dem Iran und dem Irak tobte. Es war die Epoche der Isolation, in der man die Mächtigen der Islamischen Republik auf den internationalen Bühnen wie Aussätzige behandelte.
Kriegsreporter verglichen die Brutalität des ersten Golfkrieges mit jener des Ersten Weltkriegs. Und als Zuschauer dieses Blutvergiessens favorisierte die gesamte Welt – jedenfalls medial – den irakischen Diktator Saddam Hussein, obwohl er derjenige war, der den Krieg vom Zaun gebrochen hatte.
Es herrschte zwar der Kalte Krieg, doch alle Super- und Mittelmächte der Welt waren Saddams Waffenlieferanten, die kapitalistischen USA ebenso wie die sozialistische UdSSR. Kriegsgeräte kamen buchstäblich aus Nah und Fern nach Bagdad, und alle waren dabei: Frankreich, Grossbritannien, Deutschland, Südafrika, Brasilien, die Türkei und Indien.
Israel als Waffenlieferant
Aber die Teheraner Machthaber, die das gut gefüllte Waffenarsenal des gestürzten Schahs übernommen hatten, bedienten sich bei Bedarf auf dem illegalen Markt, der reichlich bestückt war und auf dem sogar Israel als Waffenlieferant der Islamischen Republik agierte. Das war zwar verwunderlich, hatte aber eine innere Logik: Es geschah keineswegs aus Liebe zu den Mullahs, sondern aus der Überzeugung, dass Saddam Hussein nie als Gewinner aus diesem Krieg herausgehen dürfe. Sollte jemand an dieser Haltung Israels Zweifel haben, konnte er am 7. Juni 1981 um 15.26 Uhr überzeugt werden, als sechs israelische Kampfjets eine irakische Atomanlage in Bagdad bombardierten. An diesem Tag waren neun Monate des Iran-Irak-Kriegs vergangen und Saddams Truppen standen weit auf iranischem Territorium.
Doch die israelischen Waffen, die später im Zuge der sogenannten Iran-Contra-Affäre im Iran ankamen, waren nicht kriegsentscheidend. Sie reichten lediglich aus, um den Stellungskrieg fortzusetzen. Beide Seiten sollten sich bis zur Erschöpfung bekriegen, das war die Strategie der Waffenlieferanten beider Kriegsparteien. Und so wurden beide Länder zum eigentlichen Verlierer. Am Ende gab es fast eine Million Tote, zerstörte Städte und Millionen Kriegsversehrte.
Sackgassen gab es immer
Und je mehr die Machthaber in Teheran dem äusseren Druck ausgesetzt waren, umso mehr gab es Terroraktionen rund um die Welt, von Beirut bis Buenos Aires, in Europa ebenso wie in Südostasien. So wie heute befand sich Europa auch damals in seiner Beziehung zum Iran in einer diplomatischen Sackgasse, einem Spagat zwischen Vertragen und Vergelten – zwischen einem Regime-Change, wie ihn die USA immer bevorzugten, oder dem Dialog, zu dem Realpolitiker und Experten rieten.
Ein äusserst schwieriger Balanceakt. Denn ein echter Dialog auf Augenhöhe war mit den Machthabern in Teheran weder möglich noch erwünscht. Deshalb suchte man sich das Adjektiv „kritisch“: Ein Kind namens „kritischer Dialog“ war geboren.
Urvater Hans-Dietrich Genscher
Und wenn man wissen will, wann genau dieses Kind gezeugt wurde und wer sein Vater war, sollte man ins Museum gehen – genauer gesagt zum Lemo, dem „Lebendigen Museum Online“. Eine seriöse Quelle: Das Lemo ist ein Projekt der Stiftungen Deutsches Historisches Museum und Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sowie des Bundesarchivs. Verlässlicher und vertrauenswürdiger geht es nicht. Auf diesem Portal werden Lebenslinien der Persönlichkeiten der deutschen Geschichte nachgezeichnet und hier nimmt natürlich auch der langjährige deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher eine herausragende Stellung ein.
Unter dem Datum 21. Juli 1984 sind folgende zwei Sätze zu lesen: „Genscher trifft zu einem zweitägigen Besuch in der iranischen Hauptstadt Teheran ein. Genschers Besuch, der erste eines westeuropäischen Aussenministers seit der islamischen Revolution von 1979, stösst vielfach auf Kritik.“
Alle wollen nach Teheran
Genschers Trip nach Teheran war spektakulär, es gab weltweit kaum eine Zeitung, die ihn nicht kommentierte – es war eine Wende in der Weltdiplomatie. Genscher wollte nicht nur ein Türöffner sein. Er hatte mit dem Iran etwas Grösseres vor: nicht weniger als die Zähmung einer Revolution, die die Welt verändern wollte und immer noch will. Der zweitägige Besuch des deutschen Aussenministers auf dem Höhepunkt des Golfkriegs war auch erfolgreich, sogar sehr erfolgreich. Jedenfalls zunächst.
Wenige Wochen nach Genscher kam sein französischer Kollege Roland Dumas nach Teheran. Und die Franzosen wollten sogar noch weitergehen als die Deutschen. Dumas hatte ein sehr exquisites Geschenk im Gepäck: die baldige Reise seines Staatspräsidenten François Mitterrand nach Teheran. Dumas wusste, dass ein Besuch des weltweit hoch geschätzten Sozialisten Mitterrand für die Mächtigen in Teheran ein formvollendetes Symbol wäre, eine sichtbare Geste der Anerkennung der jungen Islamischen Revolution, die in einen mörderischen Krieg verwickelt war. Das Eis sei endlich gebrochen, titelten die Teheraner Zeitungen, und Tebyan, das Hauptorgan der islamischen Propaganda, schrieb, man verbeuge sich vor der Revolution.
Auch die Briten wollten unbedingt nach Teheran. Sie wollten das wirtschaftlich wichtige Land nicht anderen überlassen. Doch mit einem Besuch ihrer Queen in der Islamischen Republik konnten sie nicht dienen, und die andere mächtige Britin, Regierungschefin Margaret Thatcher, wollte und konnte nicht in den Iran. Die Zeit war noch nicht reif für Damenbesuche in Teheran. Deshalb versprach der britische Aussenminister Douglas Hurd in den iranischen Medien, bald mit einer grossen Wirtschaftsdelegation die Islamische Republik zu besuchen.
Doch weder fand ein Auftritt Mitterrands in Teheran statt noch liess sich der Brite Douglas Hurd dort blicken.
Meisterstück der Diplomatie
Doch Genschers Reise in den Iran war eine erfolgreiche Mission. Genscher wollte mehr sein als ein einfacher Türöffner. Er hatte einen besonderen Draht zu seinem iranischen Kollegen Ali-Akbar Velayati und wollte die Mächtigen des Gottesstaates überzeugen, die UN-Resolution zu einem Waffenstillstand zu akzeptieren und endlich das sinnlose Blutvergiessen an der Grenze zum Irak zu beenden.
Schliesslich gelang ihm ein Meisterstück der Diplomatie. Genschers Rolle bei der Beendigung des Iran-Irak-Kriegs kann man gar nicht überschätzen. Er wusste, dass nach Jahren des ergebnislosen Krieges auch die Teheraner Machthaber endlich begriffen hatten, dass niemand in diesem Krieg siegen dürfe. Sie fanden aber keinen Weg, den Stellungskrieg zu beenden. Ein Alibi musste her, um den erschöpften Kriegern zu erklären, warum die Waffen nun schweigen sollten. Und es war Genscher, der ihnen diese Ausrede lieferte. Viel musste er nicht tun. Als erster und einziger Aussenminister der westlichen Welt sprach er nur eine simple Wahrheit aus.
In der Geschichte der Diplomatie gibt es Sätze, die selbst Geschichte schreiben. Genschers Satz am 24. Juni 1987 war ein solcher. An diesem Tag hatte er Velayati zu Besuch. Mit ihm an der Seite trat Genscher in Bonn vor die Weltpresse und erklärte: „Der Irak hat diesen Krieg begonnen und in seinem Verlauf auch Chemiewaffen eingesetzt.“
Khomeinis Giftbecher
Das war eine Tatsache, die bis dahin kein westlicher Diplomat ausgesprochen hatte. Für die Mullahs aber war dieser Satz Gold wert; für sie war er eine Wiedergutmachung, ein Schuldeingeständnis der gesamten Welt gegenüber der Islamischen Republik.
Nach Genschers Satz in Bonn setzte sich in Teheran eine Propagandamaschinerie in Bewegung, die versuchte, den Kriegsmüden beizubringen, dass erstens die Welt, vor allem die westliche, endlich eingestanden habe, wer am Krieg schuld sei, und dass deshalb jetzt zweitens über einen Waffenstillstand und ein Kriegsende nachgedacht werden könne. Leicht war diese Wende nach so viel Zerstörung und so vielen Opfern nicht, zumal man irgendwann nach diesem Krieg in Richtung Jerusalem hatte marschieren wollen. Deshalb sprach Ayatollah Ruhollah Khomeini von einem Giftbecher, den er trinken müsse, als er am 18.07.1988 endlich die Uno-Resolution Nr. 598 über einen Waffenstillstand mit dem Irak akzeptierte.
Europas Vorreiter
Genschers diplomatische Kunst oder Realismus der Mullahs: Die offizielle Geschichtsschreibung der Islamischen Republik schreibt Genschers Satz in Bonn eine besondere, sogar eine einmalige Bedeutung zu: Nachlesen kann man das im „Dokumentationszentrum der heiligen Verteidigung“, das auch online zu besichtigen ist.
Unbestreitbar war Genscher Wegweiser und Architekt des europäischen Dialogs mit dem nachrevolutionären Iran. Mit seinem zweiten Besuch in Teheran 1991, als unter Präsident Rafsandschani der Wiederaufbau nach dem Iran-Irak-Krieg begonnen hatte, wollte Genscher der Hauptakteur einer besseren Beziehung Europas zu Iran sein. Schon damals war der Dialog sehr schwierig.
Zwei Jahre zuvor, am 14. Februar 1989, wenige Monate nachdem er den „Giftbecher“ getrunken und den Waffenstillstand akzeptiert hatte, hatte Ayatollah Khomeini den britischen Schriftsteller Salman Rushdie wegen seines Romans „Satanische Verse“ in einer Fatwa für vogelfrei erklärt. Mit diesem Mordaufruf stürzte er die Welt in eine Krise. Die Fatwa wegen „Blasphemie“ zwang Rushdie in den Untergrund, befeuerte den Kampf der Kulturen und forderte 22 Tote. Europäische Staaten zogen ihre Diplomaten aus dem Iran ab.
Lässt sich mit einem solchen Staat überhaupt ein Dialog führen? Das muss sich Genscher bei seinem zweiten Besuch in Teheran gefragt haben. Und diese Frage stellte man sich bald auch in Frankreich. Nur wenige Wochen nach Genschers Abreise aus Teheran vollstreckte ein iranisches Mordkommando in Paris ein Todesurteil, das ein iranisches Revolutionsgericht zuvor gefällt hatte. Der Verurteilte hiess Shapour Bachtiar, der letzte Ministerpräsident des Schahs. Er wurde mit durchschnittener Kehle in seinem Apartment gefunden. Die französischen Behörden verhafteten und verurteilten später ein Kommandomitglied, doch alle Mörder kehrten nach und nach in den Iran zurück.
Nach dieser Tat sagte der französische Präsident Mitterrand seine geplante Reise nach Teheran ab. An einen Dialog Frankreichs mit dem Iran war nicht zu denken. Und sollte es in Deutschland damals noch einen Politiker gegeben haben, der immer noch glaubte, dass ein Dialog mit dem Iran möglich sei, wurde er bald eines Besseren belehrt. Ein Jahr nach dem spektakulärem Mord in Paris schlug am 17.09.1992 ein iranisches Killerkommando im Berliner Restaurant Mykonos zu. Es ermordete vier iranische Oppositionelle, die auf Einladung Björn Engholms dort den den Kongress der sozialistischen Internationale besucht hatten.
„Nicht wir brauchen Europa, sondern umgekehrt“
In Teheran herrschte offenbar eine unverrückbare Selbstsicherheit. Man glaubte, man könne sich an vielen europäischen Orten viel erlauben, denn es seien eher die Europäer, die einen Dialog mit dem Iran suchten, und nicht umgekehrt. Und die Machthaber der Islamischen Republik sollten Recht behalten.
Trotz der Fatwa gegen Salman Rushdie und trotz der Morde in Paris, Berlin und anderswo beschlossen die europäischen Aussenminister am 12. Dezember 1992 auf ihrer Tagung in Edinburgh, den Dialog mit dem Iran fortzusetzen. Das Adjektiv „kritisch“ sollte nur die Kritiker besänftigen. Erfinder dieses Zusatzes soll Deutschland gewesen sein, das inzwischen wiedervereinigt war und einen Aussenminister namens Klaus Kinkel hatte – den man im Bundestag sogar einmal als Vater des „kritischen Dialogs“ rügte.
Neues Europa, neuer Naher Osten, alte Frage
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist seither vergangen. Nicht nur Deutschland und Europa haben sich in diesen Jahren stark verändert. Der Nahe Osten von 1992 existiert praktisch nicht mehr. Kriege, Revolten und Revolutionen haben die Region für immer umgekrempelt, die Weiterexistenz vieler Staaten dort scheint nicht mehr sicher zu sein. In Deutschland spricht niemand mehr vom „kritischen Dialog“ mit dem Iran.
Doch eine Frage steht weiterhin im europäischen Raum: Wie hältst Du es mit dem Iran? Und die Frage nach den Adjektiven ist dabei längst zu einer rein semantischen geworden.
Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Projektes des Vereins ’Transparency für Iran e. V.‘ entstanden, das durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wurde.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal
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