Die Schweiz führte als eines der ersten Länder 1848 das allgemeine Stimm- und Wahlrecht für Männer ein. Waren anfangs noch ganze Gruppen von Männern aus religiösen und sozialen Gründen ausgeschlossen, so wurde dieser Missstand schrittweise behoben. Im 19. Jahrhundert wurde zudem die Demokratie substanziell ausgebaut: 1874 mit dem fakultativen Gesetzesreferendum und 1891 mit der Volksinitiative. 1921 kam noch das Staatsvertragsreferendum hinzu.
Auf der anderen Seite aber blieben die Frauen in der Schweiz von Anfang an wie selbstverständlich von sämtlichen politischen Mitbestimmungsrechten ausgeschlossen. Dieser Ausschluss der Frauen aus der Politik wog umso schwerer, als das Stimmrecht in der Schweiz weit mehr war als nur ein Wahlrecht.
Warum hat es mit der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz bis 1971 gedauert? Die meisten Länder in Europa hatten das Frauenstimmrecht bereits in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eingeführt. Eine zentrale Rolle für die Verzögerung spielten die Referendumsdemokratie, welche für die Einführung des Frauenstimmrechts eine obligatorische Volksabstimmung vorsah, die ausgeprägte männerbündlerische politische Kultur der Schweiz, ein passiver Bundesrat und ein zaudernder Freisinn.
Obligatorische Volksabstimmung
Der am häufigsten genannte Grund ist jener der obligatorischen Volksabstimmung. In fast allen Ländern wurde das Frauenstimmrecht im Zuge von gesellschaftlichen Umbrüchen eingeführt und es wurde dabei nicht gesondert über das Frauenstimmrecht abgestimmt. In der Schweiz dagegen brauchte es – nach der Meinung und dem Willen der politischen Verantwortlichen – für das Frauenstimmrecht eine Verfassungsänderung. Diese musste in einer Volksabstimmung die Zustimmung der Mehrheit der Männer und der Kantone erhalten. Es war so letztlich die männliche Stimmbevölkerung, welche die Einführung des Frauenstimmrechts verzögerte.
In diesem Sinn unterstrich Bundesrat Wahlen bereits 1962 vor dem Nationalrat: «Denn es ist doch so, dass ohne das Verfassungsreferendum das Frauenstimmrecht bei uns schon längst, spätestens aber am 13. Juni 1958, verwirklicht worden wäre, als der Nationalrat mit 96 zu 43, der Ständerat mit 26 zu 12 Stimmen den bezüglichen Verfassungsartikel zuhanden der Volksabstimmung befürwortete.»
Ein einig Volk von Brüdern!
In der Tat war die politische Kultur der Schweiz männerbündlerisch geprägt. Ihre republikanischen Identitätsbilder basierten auf den Gründermythen der Eidgenossenschaft: auf Wilhelm Tell, auf dem Rütlischwur und dem Burgensturm. Zentral war dabei die Idee des Bundes zwischen gleichberechtigten Männern, unabhängig von religiösen und Standesgrenzen. Dieser männliche Republikanismus wurde in den vielen Gesangs-, Schützen- und Studentenvereinen eingeübt und gepflegt.
Den Frauen wurde dagegen die private häusliche Sphäre zugewiesen, wobei ihnen die Aufgabe der «Stauffacherin» zukam, das heisst, sie hatten zu Hause die Grundlagen für republikanisches Denken und Handeln zu legen und über deren Respektierung zu wachen. In der Politik aber wollte man die Frauen nicht.
Passiver Bundesrat
Diese konservative, männerbündlerische Haltung der männlichen Stimmbevölkerung war dem damals bürgerlich-konservativen Bundesrat natürlich bekannt. Doch anders als bei anderen Themen machte er keine Anstalten, in Sachen Frauenstimmrecht die Führung zu übernehmen. Als der Nationalrat im Sommer 1919 zwei Vorstösse für das Frauenstimmrecht als Postulate überwies, wartete er vorerst ab. Nachdem in fünf Kantonen Vorlagen für das kommunale und kantonale Frauenstimmrecht deutlich verworfen worden waren, unternahm der Bundesrat gar nichts mehr.
Zahlreiche Petitionen der Frauenstimmrechtsbewegung, selbst eine von 1929, die von 170’000 erwachsenen Schweizerinnen und 80’000 Schweizern unterzeichnet wurde, beeindruckten den Bundesrat nicht, genauso wenig wie weitere Vorstösse aus dem Parlament. Als der Bundesrat 1951 endlich einen Bericht zum Frauenstimmrecht vorlegte, meinte er, die Zeit sei noch nicht reif.
Es brauchte ein externes Ereignis, welches es den Befürworterinnen ermöglichte, Druck aufzubauen. Als der Bundesrat die Frauen zum Zivilschutz beiziehen wollte, gaben die Frauenverbände deutlich zu verstehen, dass sie nicht bereit waren, neue Pflichten bei weiterhin fehlenden politischen Rechten zu akzeptieren. In der Folge präsentierte der Bundesrat eine Vorlage zur Einführung des Frauenstimmrechts.
Die Abstimmung von 1959
Die Frauenstimmrechtsvorlage wurde von den beiden Räten 1958 deutlich angenommen. Die Historikerin Yvonne Voegeli weist in ihrer Dissertation allerdings darauf hin, dass einige Konservative nur deshalb zustimmten oder sich der Stimme enthielten, weil sie sicher waren, dass die Vorlage in der Volksabstimmung keine Mehrheit finden würde. Sie hofften, dass das Frauenstimmrecht deutlich verworfen und das Thema damit von der politischen Traktandenliste verschwinden würde.
Dass die Unterstützung des Frauenstimmrechts durch die Parteien nur zögerlich war, zeigt sich in den Abstimmungsempfehlungen. Für ein Ja sprachen sich nur die SP, die Gewerkschaften, die kommunistische PdA und der Landesring der Unabhängigen (LdU) aus. FDP, Liberale und die Katholisch-Konservativen (die spätere CVP) gaben dagegen die Stimme frei, die BGB (die heutige SVP) empfahl Ablehnung. In der ersten gesamtschweizerischen Abstimmung vom 1. Februar 1959 wurde das Frauenstimmrecht von zwei Dritteln der Männer an der Urne abgelehnt.
Die Rolle der Freisinnigen
Das Faktum, dass in den Jahrzehnten nach 1919 nur gerade die Linke und der LdU sich dezidiert für das Frauenstimmrecht einsetzten, während sich die Freisinnigen häufig ambivalent und zurückhaltend zeigten, liess die Historikerin Brigitte Studer die Freisinnigen kritisieren: Sie hätten es mit ihrer hegemonialen Stellung in der Hand gehabt, das Frauenstimmrecht zusammen mit der SP vorwärtszutreiben, sich jedoch aus Rücksicht auf die konservativen Koalitionspartner (KK, BGB) im Bundesrat zurückgehalten.
Können Männer über Grundrechte entscheiden?
Die Befürworterinnen des Frauenstimmrechts versuchten es auch mit der Strategie der Neuinterpretation der Bundesverfassung. Der Begriff «Schweizer» in der Bundesverfassung solle auch für die Frauen gelten, und damit sollten ihnen dieselben politischen Rechte zukommen wie den Männern, ohne Volksabstimmung. Sie liefen aber bei den verschiedenen politischen und juristischen Instanzen auf. Das «Primat der männlichen Volksentscheide», so die Historikerin Regina Wecker, blieb unangetastet.
Der Walliser Nationalrat Peter von Roten, Ehemann der Feministin Iris von Roten, hatte sich bereits 1951 in Zusammenarbeit mit dem Frauenstimmrechtsverband für den Weg über die Verfassungsinterpretation stark gemacht. Es dürfe nicht sein, dass politische Gleichberechtigung der Frauen vom Beschluss der Männer abhängig gemacht würde. Gleichberechtigung stünde den Frauen einfach zu. Für ihn war die Volksabstimmung ein Abschieben von Verantwortung, man wolle dem «bösen Souverän» die Schuld geben können, und er fügt an: «Die Volksabstimmung, das Referendum, sind eine Zierde unserer Demokratie und sie sollen zum Schutze des Volkes dienen, aber nicht zum Schutze der Privilegierten angewendet werden, wie man das in diesem Falle tun will.»
Mit dem Beharren der politisch Verantwortlichen auf dem Weg über die Verfassungsänderung mit Volksabstimmung wurde nicht nur die Einführung des Frauenstimmrechts verlangsamt. Wie die Historikerin Sibylle Hardmeier in ihrer Dissertation aufzeigt, boten die institutionellen Hürden der Referendumsdemokratie den Gegnern auch mehrfach Gelegenheit, gegen das Frauenstimmrecht aktiv zu werden, sei es im Parlament oder in der Volksabstimmung selber.
Frauenstimmrecht als Menschenrecht
Mit der Gründung des Europarates und der Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde das Frauenstimmrecht in der Schweiz immer mehr auch als Menschenrecht eingefordert. Als in den Sechzigerjahren der Bundesrat die EMRK wegen des fehlenden Frauenstimmrechts «mit Vorbehalt» unterzeichnen wollte, reagierten die Frauen heftig, unter anderem auch mit einem Protestmarsch nach Bern. Als der Vorschlag des Bundesrates im Ständerat scheiterte – wenn auch nicht nur wegen des Frauenstimmrechts –, legte der Bundesrat dem Parlament eine Botschaft für die Einführung des Frauenstimmrechts vor.
Mittlerweile hatte sich mehrheitlich die Einsicht durchgesetzt, dass den jahrelang vorgetragenen Argumenten gegen das Frauenstimmrecht jegliche Rationalität abhandengekommen war, und es wurde für die Schweiz im internationalen Umfeld immer peinlicher, dass es kein Frauenstimmrecht gab. Die Angst vor einem Reputationsschaden machte der Schweiz Beine.
Am 7. Februar 1971 wurde das Frauenstimmrecht von rund 66 Prozent der Stimmenden und von 14 Kantonen und 3 Halbkantonen angenommen. Bis Ende 1972 führten praktisch alle Kantone das kantonale und kommunale Frauenstimmrecht ein. Nur in den beiden Appenzell dauerte es noch länger.
Werner Seitz ist der Autor des Buches «Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900». Zürich: Chronos Verlag, 2020.