In den 1980er Jahren studierte Michail Chodorkowski am berühmten Mendeljew-Institut in Moskau und machte 1986 sein Diplom als Chemie-Ingenieur. Die Basis seiner Karriere bildeten seine Kontakte zur Kommunistischen Partei. An seiner Hochschule war Chodorkowski stellvertretender Vorsitzender des Komsomol, der Kaderschmiede der Partei. Chodorkowski gehörte zu den Auserwählten, die in den letzten Jahren der Sowjetunion die ersten Gehversuchen im Kapitalismus machen sollten. Zusammen mit einigen Freunden importierten sie Computer und billigen französischen Brandy. Aus diesem sehr profitablen „bizness“ entstand das Startkapital für die Gründung der Bank Menatep in den frühen 90er Jahren.
Enge Kontakte zur politischen Macht spielten dann wieder eine wichtige Rolle. Chodorkowski konnte über seine Bank die Geschäfte der Regierung Jelzin abwickeln. Auch mit dem Ausland hatte der junge Geschäftsmann beste Beziehungen. Der erste Vizedirektor von Menatep war Konstantin Kagalowski, verheiratet mit Natascha Gurfinkel. Sie war die Chefin der Russlandabteilung der Bank of New York. Diese Bank kam 1999 nach dem Rubelkollaps in die Schlagzeilen, weil über sie Milliarden von russischem Fluchtkapital ins Ausland verschoben wurden. Chodorkowski arbeitete auch mit Marc Rich zusammen, dem kontroversen Rohstoffhändler mit Sitz in Zug.
Der grosse Coup
Den grossen Coup landete Chodorkowski 1995, als der bankrotte russische Staat gezwungen war, die Filet-Stücke des ehemaligen Volkseigentums an eine Gruppe von rasch reich gewordenen Jungkapitalisten, darunter Chodorkowski, zu verscherbeln. Im sogenannten „Kredite-für-Aktien"-Programm konnten sie sich die Aktienmehrheit der grössten Öl– und Rohstoffkonzerne sichern. Chodorkowski erwarb für 350 Millionen Dollar den Ölgiganten Yukos. Zwei Jahre später war der Wert seines Aktienpaketes auf das Zwanzigfache gestiegen.
Mit dieser beispiellosen Ausplünderung des ehemaligen Volkseigentums verbindet die russische Bevölkerung bis heute den Namen Chodorkowski und der übrigen am „Kredite-für-Aktien“ beteiligten Oligarchen. Während ein paar Leute sich schamlos bereicherten, lösten sich wegen der Hyperinflation die Ersparnisse der Russen in Luft auf. Der Staat war nicht mehr in der Lage, Renten und Löhne zu zahlen. Die Mafia machte sich im rechtlosen Raum breit. Die Oligarchen kontrollierten die Medien, unterhielten ihre Privatarmeen, mit denen sie sich blutige Kämpfe auf offener Strasse lieferten. Der unpopuläre und schwache Präsident Jelzin übertrug Chodorkowski und anderen Oligarchen sogar Regierungsämter, wo sie die Geschicke des Landes in ihrem Interesse lenken konnten.
„Schaschlick-Pakt“ gebrochen
Über diese Hintergründe war der ehemalige Chef des Inlandgeheimdienstes FSB, Waldimir Putin, bestens informiert. Nach seiner Wahl zum Präsidenten schloss er mit den Oligarchen den sogenannten „Schaschlick-Pakt“. Er schlug ihnen vor, sich aus der Politik herauszuhalten. Dafür verzichte er darauf, die „Oligarchen-Privatisierung“ der 90er Jahre nochmals unter die Lupe zu nehmen.
Chodorkowski tat in den nächsten drei Jahren genau das, wovor Putin die Oligarchen gewarnt hatte. Er gründete eine „Open Russia“–Stiftung, welche die russische Zivilgesellschaft unterstützte, beteiligte sich beim Aufbau unabhängiger Medien, finanzierte Parteien. Am meisten provozierte Chodorkowski Putin, weil er als Ölmagnat ein unabhängiger Unternehmer werden wollte und nicht mehr bereit war, die „schwarzen Kassen“ des Kremls zu füllen. Chodorkowski wagte eine Konfrontation mit dem System.
Schock für den Westen – aber nicht für Russland
Im Oktober 2003 wurde Chodorkowski verhaftet. In Russland wurden die Verhaftung und Verurteilung Chodorkowskis mehrheitlich begrüsst. Der Westen reagierte schockiert. Dort verstand man erst jetzt, dass die so begrüsste Privatisierung der 90er Jahre auf tönernen Füssen steht.
Mit der Verurteilung Chodorkowskis gab Putin folgende Signale:
Die politisch-administrative Macht dominiert und die Oligarchen haben sich unterzuordnen.
Der Kreml übernimmt die Kontrolle über die strategischen Ressourcen.
Mit der Verurteilung Chodorkowskis zerschlug Putin auch eine vom Kreml autonome Unterstützung für unabhängige Parteien, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen.
Und schliesslich konnte sich Putin dem russischen Volk als Herrscher präsentieren, der die „Raubtierkapitalisten“ endlich in Schranken wies.
Für Putin und seinen Clan diente der Fall Chodorkowski auch als Kulisse, hinter der sich eine neue Generation von Oligarchen bilden konnte, die sogenannten „Putin-Garchen“, die heute einen Grossteil der russischen Wirtschaft kontrollieren.
Niederlage für Medwedew
Welche Auswirkungen hat die neue Verurteilung Chodorkowskis ? „Mit einem Freispruch Chodorkowskis könnte Präsident Medwedew der russischen Bevölkerung und dem Ausland mit einem Schlag beweisen, dass seine Modernisierungpläne mehr als nur leere Worte sind.“ In dieser Spekulation eines Beraters von Medwedew vor gut einem Jahr war zumindest eine leise Hoffnung herauszuhören. Denn der Fall Chodorkowski demonstriert, wie das Rechtssystem von der politischen Macht abhängig geblieben ist, was Medwedew als Rechtsnihilismus gegeisselt hat.
Das Signal ist nicht gekommen. Chodorkowskis bleibt eine Schlüsselfigur, die aufzeigt, was in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion falsch gelaufen ist und was geschehen müsste, um Russland zu öffnen.
Der Westen hat Chodorkowski zu einem Verteidiger von Demokratie und Rechsstaat stilisiert. In den Augen von mehr als 80 Prozent der russischen Bevölkerung jedoch hat sich Chodorkowski unrechtmässig bereichert und seine Strafe verdient. Das ist nur zu einem Teil mit der von der Regierung manipulierten Information zu erklären. Noch sind die traumatischen Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion weiterhin im Bewusstsein der Bevölkerung lebendig. Das hat der Westen weitgehend verdrängt, obwohl er in den 90er Jahren in Moskau mit einem Heer von Beratern die Weichen stellen half, die heute den Erfolg des Phänomens Putin und damit auch den neuen „Schuldspruch“ gegen Chodorkowski erklären.