Doch wie jeder Indienfahrer weiss, der nicht nur im Dreieck von klimatisierten Hotels, Büros und Flughäfen navigiert, ist es vor allem eine Parabel ueber Imagewandel im Zeitalter der totalen Information.
Indiens industrielle Entwicklung, namentlich im IT-Bereich, ist real, seitdem der Staat seine Schrauben gelockert hat; seine Unternehmen sind global erfolgreich; indische Manager bevölkern die Chefetagen des internationalen Kapitals, Künstler und Wissenschafter werden weltweit wahrgenommen. Doch bedeutet dies, dass es deshalb weniger Arme zählt?
Der Annahme liegt ein beliebtes Bild von Powerpoint-Präsentationen zugrunde: Beim Hereinkommen der Flut in den Hafen steigen alle Boote, grosse wie kleine. Soll heissen: vom Wirtschaftswachstum profitieren auch die Armen. Doch wie ist es mit den Booten, die auf dem Trockenen sitzen? Jene, die am globalen Austausch von Arbeit, Kapital und Gütern – dem steigenden Meer – gar nicht teilhaben?
**15 Prozent Arme? Oder 78 Prozent?
Indien ist eine Demokratie, wo sich Menschen frei bewegen und äussern, und wo sich deshalb schlecht Potemkinsche Dörfer errichten lassen. Die Armut trifft jeden Indien-Reisenden und bombardiert seine Sinne – vom Anblick der Elendshütten, dem Fäkaliengeruch der Flussufer, dem akustischen Chaos des Verkehrs, der unangenehmen Berührung einer Bettlerhand durchs offene Taxifenster. Man kommt also nicht um die Frage herum: Wie viele arme Inder gibt es eigentlich?
Das Land hat sechzig Jahre Zeit gehabt, sie zu beantworten, es beschäftigt eine Armee von Ökonomen, die zusammen mit Staatsvertretern und NGOs eine Kleinindustrie namens ‚Armutsdefinition‘ unterhalten. Dennoch, wer wissen möchte, wie viele Arme es unter den 1200 Millionen Indern gibt, kann Antworten erhalten, die von 200 bis 1000 Millionen schwanken. Der Ökonome Surjit Bhalla schätzt sie auf 15% der Bevölkerung, gemäss seinem Kollegen Nitish Sengupta verdienen 78% den Elendsstempel.
Der Streit beginnt und endet mit der Definition von Armut. Und die letzten Wochen zeigten, wie heftig er werden kann. Planungsminister Montek Ahluwalia hatte es gewagt, ein Tagesverdienst pro Kopf von 26 Rupien (fuer ländliche Inder; 32 fuer Städter) als Minimaleinkommen festzulegen.
Ein Aufschrei war die Folge: Wie ist es vorstellbar, dass ein ‚Aam Admi‘ – der sprichwörtliche ‚einfache Mann‘ – mit 26 Rupien, etwas mehr als einem halben Dollar, überleben kann? Nicht einmal seinen Magen füllen kann er damit, vergiss Gesundheitskosten, Schulgeld, Kochgas, Unterkunft, Transport, Kleider, nicht zu reden von einem Fahrrad oder einem Fernseher. Hat Ahluwalia überhaupt schon einmal das Innere einer Hütte gesehen, er, der 115 Mal mehr verdient?, fragten sogar Mitglieder des regierungsnahen ‚National Advisory Council‘.
Nur jeder zwanzigste Inder ist gesundheitsversichert
Selbst in einem armen Land wie Indien wuerde mit einem so tiefen Ansatz eine Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr zu den Armen zählen. Womit sich die Regierung aus der Pflicht gestohlen hätte, denn per Gesetz sind seine Armutsprogramme nur für die ‚BPL‘ bestimmt – die Menschen ‚Below the Poverty Line‘. Will sie etwa auf dem Rücken der Armen sein Defizit ausgleichen, fragt die Opposition höhnisch, sie, die Fahnenträgerin des ‚Aam Admi‘?
Eilig beteuerte der Minister, die 26/32 Rupien-Grenze sei nur eine analytische Kategorie, und habe nichts damit zu tun, wer unter die Armenfürsorge fällt. Tatsächlich hatten die Planer lediglich die bestehende Armutsdefinition fuer 2011 ‚inflationsbereinigt‘. Sie ist immer noch schwergewichtig dieselbe, die 1971 erstmals festgelegt wurde.
Damals sassen dem Land zwei Hungersnöte in den Knochen, und die Definition der ‚absolut Armen‘ mündete in die Beantwortung der Frage, wieviel einer verdienen muss, um Nahrungsmittel mit einem Nährwert von mindestens 2000 Kalorien zu kaufen. Der ‚Warenkorb‘ hat sich erweitert – Armut ist nicht nur Hunger – aber bis heute machen Nahrungskosten über 50% des Minimaleinkommens aus. Für Gesundheit dagegen werden 0.5% eingesetzt, für Wohnen 3%, für Erziehung 2%. Das ist lächerlich wenig. Nur jeder zwanzigste Inder ist gesundheitsversichert. Und gerade arme Menschen sind besonders krankheitsanfällig; aufgrund von Mangelernährung und unreinem Wasser sind etwa die Häfte aller Frauen anämisch. Gerade die Armen geben deshalb viel mehr für ihre Gesundheit aus, und müssen dafür oft an der Ernährung sparen. Das endet in einer Negativspirale, die durch Verschuldung noch beschleunigt wird.
Viel Geld wandert in die falschen Taschen
Sind also ‚nur‘ 32% der Inder arm, wie es der Staat behauptet? Kann dies stimmen, wenn beinahe die gleiche Zahl (400 Millionen) in Slums lebt, diese 32% also eigentlich nur die städtischen Armen abdeckt? Und wie arm das ländliche Indien geworden ist, lässt sich in einer Milchmädchenrechnung leicht erschliessen: Der Anteil der Landwirtschaft an der nationalen Wirtschaftsleistung ist in den letzten 30 Jahren von 50% auf 15% des BSP gesunken; aber immer noch die Hälfte der Bevölkerung – 600 Millionen – hängt für ihr Überleben von der Landwirtschaft ab.
Es ist nicht so, dass der Staat nichts für seine Armen tut. Allein das Ministerium für ländliche Entwicklung gibt jedes Jahr eine Billion Rupien – zwanzig Milliarden Franken – für Armutsprogramme aus. Aber viel davon wandert in die falschen Taschen. Die Rationenkarten des ‚Public Distribution System‘(PDS) etwa, mit denen die Armen billige Lebensmittel kaufen können, werden massiv missbraucht. Der Ökonome Jean Dreze nimmt an, dass 60% der PDS-Karten nicht von Armen benutzt werden. In Faridabad bei Delhi wurde eine Frau verhaftet, die 926 Rationenkarten besass. Mit ihnen kaufte sie billige Nahrungsmittel und verkaufte sie im freien Markt. Die wirklich Armen sind denn gar nicht so erpicht auf eine PDS-Karte. Ich fragte einen Bettler in Bombay, ob er eine Rationenkarte habe. Nein, sagte er. Warum nicht? „Die PDS-Läden sind meistens leer“.
Bollywood füllt den Bauch nicht
Wieviele arme Inder gibt es also? Ich glaube, niemand weiss es wirklich. Ein Ökonom des Planungsministeriums verwarf im Fernsehen seine Hände. Man bestimme doch lieber jene Inder, die nicht arm sind, das sei viel leichter: MfZ-Besitzer, Land- und Hausbesitzer, Steuerzahler, Lohnempfänger, Flugreisende. Alle andern sollten in den Genuss der Armenfürsorge kommen.
Auch die Besitzer eines Fernsehers, oder eines Handys? Natürlich, schreiben die MIT-Ökonomen Esther Duflo und Abhijit Banerjee in einem bemerkenswerten Buch (‚Poor Economics‘): Viele Arme kaufen ein Handy, weil es zu ihrem Überleben wichtiger ist als 2000 kcal. Und warum sollen Arme nicht fernsehschauen dürfen? Bollywood füllt den Bauch nicht, aber es lässt, wie eine Schmerztablette, fuer einen Augenblick die Armut vergessen.