In den Industrieländern des Westens ergab sich da eine Verschiebung von der Klassen- zur Mittelschichtsgesellschaft und damit eine materielle Besserstellung der arbeitenden Bevölkerung; dies als Folge einer gezielten Politik des Welfare, die gegen die Verführungen des Kommunismus immunisieren sollte. Weil sie unter ganz anderen Umständen geprägt worden war, konnte die Vorkriegsgeneration im Kopf mit dieser gesellschaftlichen Transformation nur bedingt Schritt halten. Neues und Altes prallten schliesslich aufeinander; der rasante Umbau stürzte die Industriegesellschaften in eine Art von Wachstumskrise.
50 Jahre sind seither vergangen und noch immer zittert es in historischen oder kulturpolitischen Debatten nach: das Beben von 1968. Doch nicht einmal hinsichtlich der Frage, ob jene Jugendrevolte eine epochale Erschütterung bedeutet, besteht Einigkeit, geschweige denn in Bezug auf ihre Wertung. „War ‚1968‘ ein politisch-kulturelles Jahrhundertbeben, das bis heute die Gesellschaft prägt – oder nur eine randständige Episode, eher wirre Folklore als wirkliche Historie, ein peinlicher Irrtum der Geschichte?“ So fragt Reinhard Mohr, deutscher Soziologe und Publizist, in seinem Buch „Der diskrete Charme der Rebellion“, das 2008 zum vierzigsten Jubiläum erschienen ist. Hat jene Bewegung die westlichen Gesellschaften von alten patriarchalen Zöpfen befreit und damit weitergebracht, oder hat sie die Tür zum Abgrund aufgestossen, zu einem allgemeinen Werteverfall? Auch da gehen die Meinungen diametral auseinander.
Ganz offensichtlich stellt der Aufruhr von 68 ein höchst vielschichtiges historisches Ereignis dar. Es ist weder in sich einheitlich gerichtet noch auf eine klar fassbare Ursache zurückzuführen, zudem ausgesprochen widersprüchlich in Bezug auf seine Auswirkungen. Wer ihm gerecht werden will, muss ziemlich weit ausholen: Zu beleuchten sind zuerst einmal die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit, aus denen der Jugendprotest letztlich erwuchs, dann sind dessen verschiedene – z. T. gegenläufige – Unterströmungen zu differenzieren, und letztlich gilt es den sehr unterschiedlichen Niederschlägen nachzuspüren, die jene Welle in der kulturellen und politischen Landschaft hinterlassen hat. Den sozioökonomischen Hintergrund erläutert nun dieser erste Artikel der Reihe; die beiden folgenden werden sich mit der Bewegung selbst und mit deren Folgen befassen.
Die Grosse Kompression
In der Nachkriegszeit kommt es in den westlichen Industrieländern zu einer entscheidenden sozialen Umwälzung: Es bilden sich da nach und nach Mittelschichtsgesellschaften heraus, in denen sich der alte Klassengegensatz auflöst. Die US-Ökonomen Claudia Goldin und Robert Margo haben diese Entwicklung, die revolutionär, aber politisch durchaus gewollt war, als Grosse Kompression charakterisiert, und zwar in Anlehnung an den Begriff der Grossen Depression, die metaphorische Bezeichnung für die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre.
Diese Kompression brachte primär eine materielle Besserstellung der arbeitenden Bevölkerung zulasten der wirtschaftlichen Eliten, deren Reichtum durch erhöhte Steuern abgeschöpft wurde. In Gang gesetzt hatte diesen Prozess schon vor dem Krieg Roosevelts New Deal, der durch Umverteilung die serbelnde Nachfrage ankurbeln und so aus der Depression herausführen sollte.
Wohlstand als Immunisierungsstrategie
In Roosevelts Wirtschaftsreform war im Grunde schon das Konzept des Sozialstaats enthalten, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt dieser Ansatz den entscheidenden Schub, und zwar durch die Rote Gefahr, die Bedrohung des kapitalistischen Westens durch die Sowjetunion.
Armut und Not waren nach den Verheerungen des Krieges verbreitet und machten die Bevölkerungen anfällig für kommunistische Verlockungen; ihre wirtschaftliche Einbindung sollte die Arbeiter genau dagegen immunisieren und war insofern Teil der Containment- Strategie, die der Westen den Expansionsgelüsten der UdSSR entgegenhielt. In Nato-Staaten wie Frankreich oder Italien gab es traditionell eine starke Linke, in Griechenland war es unmittelbar nach dem Krieg zu einem kommunistischen Aufstand und im Gefolge zum Bürgerkrieg gekommen; sozialistischer Umsturz – mit russischer Beihilfe – war also für Europa durchaus denkbar. Vor diesem Hintergrund wurden moderat sozialdemokratische Forderungen auf der bürgerlichen Belétage salonfähig, und die Unternehmer zeigten sich zu bisher undenkbaren Zugeständnissen bereit, was Lohn, Arbeitszeit sowie soziale Absicherung betraf.
Das Ende der Ausschliessungen
Der Sozialstaat ist letztlich aus politischer Not geboren; sein Zweck war es ursprünglich, angesichts einer äusseren Bedrohung innere Gegensätze zu mildern, indem man gesellschaftliche Schranken abbaut. Die Einigkeit nach innen wurde schlicht durch die globale Polarisierung erzwungen, die im Übrigen auch bei der Überwindung der europäischen Nationalismen half, weil sich die Aggression jetzt auf einen gemeinsamen Feind bündeln liess. Das Konzept der Mittelschichtsgesellschaft folgte einem Prinzip der Inklusion und war so generell gegen soziale Ausschliessung gerichtet; damit gerieten nach der Aufhebung des Klassengegensatzes fast zwingend weitere traditionelle Ausgrenzungen ins Rutschen: Die Emanzipation der Frauen wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA sind in jenem Prinzip bereits angelegt – und ansatzweise eben auch die Jugendrevolte.
Wirtschaftswunder
Das zweite historische Charakteristikum der Nachkriegsepoche bildete der enorme wirtschaftliche Aufschwung, der nahezu zwei Jahrzehnte anhielt und für den die Deutschen den Begriff Wirtschaftswunder erfanden. Angestossen wurde dieser Boom sicher durch die amerikanische Aufbauhilfe – auch sie Teil der Containment-Strategie –, weiter befeuerte ihn dann jedoch der Anstieg der Reallöhne. Das Kalkül, das hinter dem New Deal gestanden hatte, ging erst in der Zeit nach dem Krieg so richtig auf. Tatsächlich war das massive und dauerhafte Wirtschaftswachstum aufs engste mit der Vergrösserung der Mittelschicht verklammert:
Der Konsum der Beschäftigten stieg proportional zu den Löhnen an; dadurch wiederum wurden neue Arbeitsplätze – d. h. zusätzliche Einkommensmöglichkeiten – geschaffen.
Widersprüche der Nachkriegszeit
Die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften drückte die Saläre weiter nach oben und führte dazu, dass die herkömmlichen Reservoire schliesslich ausgeschöpft waren. Das ist der Punkt, wo sich der Arbeitsmarkt auch grossflächig den Frauen öffnet und wo eine Arbeitsmigration einsetzt, die vor allem den mittel- und nordeuropäischen Ländern eine erste Berührung mit Multikulturalität verschafft. Grenzen öffnen sich und traditionelle Vorstellungen geraten ins Wanken: Die Frauen lösen sich vom Herd, gewinnen auf der Basis eigener Einkommen Selbstbewusstsein und fordern entschiedener als je die Gleichberechtigung; Fremde erscheinen im Strassenbild, bringen ihre Sitten und Ernährungsweisen mit – von der Pizza bis zum Döner –, was bei den Gastgebern bald einmal zu Überfremdungsängsten führen sollte.
Die Schranken des Vorkriegscharakters
Ökonomisch sah sich die Vorkriegsgeneration zwar ins Schlaraffenland versetzt, doch mental war sie für diesen Sprung schlecht gerüstet. Diese Generation hatte ihre Jugend in Krise und Krieg durchlebt; Ihre prägende Erfahrung war die von Mangel und politischer, wenn nicht gar militärischer Disziplinierung. Sie war durch die Umstände auf eine rigide Verzichtmoral getrimmt worden, hatte also primär gelernt, an sich zu halten und sich zu ducken. Der durchschnittliche Vorkriegscharakter ist seinem Wesen nach autoritär, das heisst, er wünscht sich vor allem Ordnung und klare hierarchische Verhältnisse; dementsprechend gestalten sich auch die gesellschaftlichen Zustände in den Fünfzigern: Man hatte sich in konservativ-patriarchalen Lebens- bzw. Vorstellungswelten eingerichtet, wo die Männer das Sagen, Frauen und Kinder dagegen zu gehorchen hatten, wo traditionelle Tugenden hochgehalten und nationale Symbole respektiert wurden.
Die ältere Generation liess sich die neuen wirtschaftlichen Segnungen durchaus gefallen, aber sie hatte es nicht so mit dem Neuen, das diese im sozialen wie im kulturellen Umfeld nach sich zogen. Zudem hatte der Vorkriegscharakter auch verinnerlicht, wie wichtig es ist, mit wenig auszukommen und für noch schlimmere Zeiten zu sparen; so fiel es ihm nicht leicht, die jetzt ökonomisch angesagte Kauffreude aufzubringen. Kurz: Die Menschen, die den Aufschwung im Wesentlichen durch ihre Disziplin erarbeitet hatten, standen ihm zuletzt mit den lebensgeschichtlich erworbenen Hemmungen im Weg. Sollte dieser Aufschwung weitergehen, brauchte es nicht weniger als eine fundamentale geistige Umrüstung der Gesellschaft, und als Adressat dafür bot sich eben die Nachkriegsjugend an, die noch nicht fix in ein autoritäres Korsett gepackt war.
Moralische Neukalibrierung
In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Jugendbewegung verstehen, nämlich als Vehikel einer moralischen Neukalibrierung, die am Übergang zur postindustriellen Gesellschaft nötig geworden war. Dabei lag nicht etwa ein klar bewusster Wille zugrunde, der eindeutig gerichtet und von wenigen Akteuren ausgegangen wäre; es gab keine Kommandozentrale, weder einen Mastermind noch einen Masterplan. Der Umbruch ist das Resultat aus einer unüberschaubaren Vielzahl anonymer Prozesse, den unzähligen Wirbeln vergleichbar, die in ihrer Summe die Welle ausmachen. Natürlich gab es Kreise, etwa unter Künstlern und Intellektuellen, die schon seit den Fünfzigern gegen die allgemeine Enge und den Konformitätsdruck aufbegehrten. Natürlich gab es die Rockmusik, die zuerst mehr durch ihre Perfomance Widersprüche der Nachkriegszeit – Elvis the Pelvis – als durch ihre Textbotschaften Gegenakzente zur herrschenden Moral setzte; doch das entscheidende Momentum lag woanders: Die Nachkriegsjugend war in den Wohlstand hineingewachsen, und wenn auch die Elterngeneration die Verwöhnung der Kinder ideologisch ablehnte, ganz konnte sie es nicht lassen; dafür waren zu viele eigene Versagungen zu kompensieren. Im Gegensatz zu ihren Erzeugern wuchs die neue Generation auf mit einer Erfahrung der relativen Fülle, welche jede Einschränkung als willkürlich und sinnlos erscheinen liess; insofern besorgte ihre eigentliche und nachhaltige Erziehung der Wohlstand selber. So vieles lag doch in unmittelbarer Reichweite, wieso sollte man da warten, warum gar verzichten?
Jugendkultur als Transportmedium
Als die jüngere Generation die Pubertätsschwelle erreichte, kam es nicht bloss zum bekannten kurzzeitigen Ablösungsgerangel; da stiessen tief gegensätzliche, letztlich unvereinbare Prägungen aufeinander. Daraus lässt sich die Heftigkeit erklären, mit welcher der Generationenkonflikt damals ausgetragen wurde, die extreme Spannung zwischen den Älteren und der Jugend, die sich so bezeichnenderweise nie mehr wiederholt hat. Kommt ein Zweites hinzu:
Diese Jugend verfügte, ebenfalls als Folge des materiellen Aufschwungs, über eine beträchtliche Kaufkraft und konnte für jeden zum ertragreichen Absatzmarkt werden, der ihre Interessen ansprach. So entstand eine Jugendkultur, welche spezifische Bedürfnisse von Adoleszenten aufnahm, medial spiegelte und dadurch bestärkte. Kino, Fernsehen und Popmusik transportierten schliesslich Werthaltungen, die den neuen Prägungen entsprachen und damit die Vorstellungen der Elterngeneration unterminierten. Es kommt zum Paradox, dass die Wirtschaft Haltungen förderte, die ihre Entscheidungsträger wohl mehrheitlich als unmoralisch bzw. systemfeindlich abgelehnt haben.
Das Credo der Begehrlichkeit
Die Nachkriegsgeneration erlebte ihre Jugend nicht mehr als blosse Übergangsphase, als ein soziales Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein, das man so schnell wie möglich zu durchqueren hat. Weil sie eine potente Zielgruppe war, beschenkte sie der Markt mit einer eigenen Kultur; die wiederum wurde zum Echoraum, der den Kids erlaubte, eine Identität als selbstbewusste gesellschaftliche Mitspieler auszubilden. In der Folge erschienen die traditionellen Erziehungsinstanzen schnell als autoritärer Popanz und verloren ein Stück weit den Zugriff. Anders als frühere Generationen standen die 68er nicht mehr vor der alternativlosen institutionellen Einbahnstrasse, welche Schule, Kirche oder Armee mit ihren herkömmlichen Initiationswegen anboten. Es gab jetzt andere Pfade, Ausweichrouten, die dazu verlockten, im adoleszenten Gärungszustand zu verweilen und sich im Übergangsstadium auf einige Dauer einzurichten. Im Rahmen der Jugendkultur waren Vernunft, Zweckmässigkeit oder der Anpassungszwang, eben die Standards der Erwachsenenwelt, quasi ausgesetzt; hier herrschte ein Credo der Begehrlichkeit, das die Rolling Stones mit ihrem Dauerhit von 1964 auf den Punkt gebracht hatten: „I can't get no satisfaction!“
Provokation pur
Das Begehren aber, das hier unbefriedigt bleibt, richtet sich auf nichts Bestimmtes, schon gar nicht auf materielle Glücksgüter, wie sie im Überfluss vorhanden waren. In Jaggers Refrain steckt vielmehr der Urschrei der reinen Absetzung, das Statement an die Adresse der Älteren, dass sie den Bruch durch nichts mehr kitten können. Hier artikuliert sich der Trotz von Kindern, die nicht länger gegängelt werden wollen und die zu gänzlich unbedachten, ja gefährlichen Aktionen bereit sind, um sich und den Eltern ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren.
Um diese Distanzierungsthematik kreiste letztlich der Protest von 68; sie gab ihm das Überbordende, teilweise Irrwitzige und in einigem durchaus Destruktive, das die bürgerliche Gesellschaft nachhaltig in Schrecken versetzt und damit auch den späteren Backlash eingeleitet hat.
Umwertung der Werte
Wenn die Welle aber auch rasch verebbte, sie hatte doch die Selbstverständlichkeit der bürgerlichen Nachkriegswelt unterspült. Oberflächlich kehrte die Gesellschaft zwar rasch wieder zur Normalität zurück, doch in den Köpfen hatte sich einiges verschoben. Natürlich war die Bewegung mit dem Kampfruf Sex, Drugs und Rock’n Roll primär auf Provokation aus gewesen; andererseits schwang da auch die konkrete Forderung nach einem freieren Leben mit, nach mehr Spontaneität und einer Öffnung der Horizonte. Und dieses Verlangen wurde mehrheitsfähig, nachdem die Exzesse abgeklungen waren: Die Schule – überhaupt Erziehung – war nun weniger autoritär, die Moral lockerer, die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten vervielfältigten sich rasant. Der Aufruhr von 68 hat in der Tat nicht das System verändert, brachte aber einen Wertewandel mit sich, der es den Menschen ermöglichte, reibungsloser in diesem System zu leben.