Nehmen wir zunächst ein paar grosse Zahlen zur Hand. Das weltweite Bruttosozialprodukt, also der Wert aller Produkte und Dienstleistungen pro Jahr, beträgt ungefähr 60 Billionen Dollar. Darum herum kreisen nach jüngsten Zahlen Derivate, also Ableitungen auf reale Werte, also Wettscheine, im Wert von 770 Billionen Dollar. Zum grössten Teil sind das Devisen-Wetten. Also die Spekulation darauf, dass beispielsweise der Euro zum Dollar steigt oder fällt.
Kurzer Ausflug ins Lehrbuch
Was bestimmt nach der herrschenden Lehre den Aussenwert einer Währung? Die Kaufkraftparität. Wenn ich mir für 3 Franken einen Liter Milch und ein Brot kaufen kann und dafür ebenfalls 3 Euro ausgeben muss, dann hätten wir ein Verhältnis 1 zu 1. Simpel, verständlich, logisch. Hat aber natürlich mit der Realität der modernen Finanzmärkte nicht mehr das Allergeringste zu tun. Also schmeissen wir das untaugliche Lehrbuch weg und betrachten lieber die Realität. Obwohl diese komplex, schwer verständlich und völlig unlogisch ist. Aber schliesslich hängt unser Schicksal davon ab, dass wir sie kapieren.
Eine Zahl ...
Laut Auskunft der Commodity Futures Trading Commission (CFTC) überstieg am Jahresende die Zahl der Short-Positionen von Hedgefonds auf den Euro diejenige der Long-Positionen um 127 900, neuer Rekord. Wie bitte? Gemach, die CFTC ist eine unabhängige, staatliche US-Behörde, die den Handel mit Optionen, also Wettscheinen, überwacht. Wer eine Long-Position hat, spekuliert auf einen Wertzuwachs seines Papiers, short bedeutet das Wetten auf einen fallenden Kurs. Zusätzlich angespitzt kann die Wette noch durch einen Leerverkauf werden, also man ist weder im Besitz des eigentlichen Wertes noch des Wettscheins darauf.
... und die Folgen
Die Zahl 127 900 sagt, dass bedeutend mehr Wetten auf einen fallenden Eurokurs als auf einen steigenden abgeschlossen wurden. Welches Volumen diese Wetten haben, ist leider nicht bekannt, sonst wäre der moderne Finanzmarkt ja keine mittelalterliche Dunkelkammer. Zudem kann die CFTC nur Wetten registrieren, die in den USA abgeschlossen werden, bildet also nur einen Teil des weltweiten Spekulationswahnsinns ab. Aber: Wetten haben es so an sich, dass sie eingelöst werden müssen - oder vornehmer ausgedrückt: Die Position muss in ein paar Tagen oder höchstens Wochen glattgestellt werden. Geht die Wette auf einen fallenden Euro schief, enden mindestens 127 900 Wettscheine mit schmerzlichen Verlusten.
Zwei Zahlen ...
Wenn das Weltbruttosozialprodukt rund 60 Billionen beträgt und jährlich für rund 1000 Billionen Geld getauscht wird, dann hat die eine Zahl mit der anderen natürlich überhaupt nichts zu tun. Deshalb spielen sich auch mehr als 60 Prozent all dieser Währungstauschgeschäfte im rein virtuellen Raum von Devisen-Derivaten ab. Wertschöpfung null, Schadenpotenzial verheerend. Aber verantwortungsbewusste Finanzingenieure haben da doch sicher eine Lösung parat. Sozusagen ein Heilmittel für die Krankheit, die sie selber darstellen. Natürlich, und das heisst Credit Default Swap (CDS). Das ist, vereinfacht, gesagt, eine Kreditausfallversicherung für den Fall, dass ein Leerverkäufer, also ein Spekulant, die Kohle nicht hat, um seine Wette einzulösen, seine Position glattzustellen. Also kein Anlass zur Panik. Oder doch?
... und die Folgen
Die Finanzingenieure wären ja nicht auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit, wenn sie aus diesen CDS nicht eine weitere Spekulationsbombe gebastelt hätten, ähnlich der Umwandlung von langweiligen Hypotheken in die finanzielle Massenvernichtungswaffe CDO, die die vorletzte Finanzkrise auslöste. Denn der Markt für CDS, inklusive des darauf aufgebauten Derivatezoos, beträgt alleine schon 32,4 Billionen Dollar pro Jahr. Da es sich hier um einen völlig unregulierten Markt handelt, wo gänzlich aufsichtsfrei freihändig Wetten abgeschlossen werden können, weiss niemand, wer genau wie viel CDS in seinen Büchern hat. Genauso wenig wie man weiss, wer eigentlich mit wie viel auf einen fallenden Euro wettet. Aber es ist ja noch schlimmer.
Prinzip Matrjoschka
Man muss sich das wie die ineinander schachtelbare russische Holzpuppe vorstellen. Nur steckt hier nicht immer wieder eine kleinere Holzfigur in einer grösseren, sondern eine Bombe in der anderen. Explodiert der Devisenmarkt, geschieht also das berühmte «Unvorhersehbare», und sei es auch nur, dass der Euro stabil bleibt oder sogar an Wert zulegt, dann explodieren alle Short-Wetten, die auf einen sinkenden Wert spekulierten. Dann explodieren die CDS-Wettscheine und anschliessend die realen Papiere, von denen all das abgeleitet ist. Und dann? Das ist wieder einfach: Der Steuerzahler darf den Sprengkrater wieder auffüllen. Wenn er noch kann.
Und der Sinn?
Hat das alles noch irgendetwas mit Kaufkraftparität oder der Absicherung von Währungsrisiken zu tun, wofür Währungsoptionen oder Ausfallversicherungen ursprünglich einmal erfunden wurden? Natürlich nicht. Trägt diese virtuelle Multibillionen-Spekulationsblase irgendetwas zur Sicherheit der weltweiten Finanzmärkte bei? Natürlich nicht. Wird durch diese Zockerei in irgendeiner Form Wertschöpfung betrieben, wenigstens eine sinnvolle Dienstleistung erbracht? Natürlich nicht. Ist irgendwo auf der Welt ein Ansatz zu erkennen, dass der Staat, der Gesetzgeber diesen Bombenbauern das Handwerk legt? Werden gut ausgebildete Kommandoeinheiten ausgesandt, um Spekulationsterroristen zu eliminieren? Natürlich nicht.