Die Züge seines Landes seien immer verspätet, fand ein weltweit Präzisionsinstrumente verkaufender Ingenieur, der mit seiner Frau vom nordostenglischen Newcastle zu den Olympischen Spielen reiste. Dass der Intercity London Kings Cross nach 393 Meilen (632 km) seit Edinburgh bei 8 Zwischenhalten auf einer Strecke aus dem vorletzten Jahrhundert mit 136 km/h Durchschnitt 7 Minuten vorzeitig erreichte, fiel nicht auf.
Die perfekte Sauberkeit der Wagen innen und aussen wie auch der Fenster war selbstverständlich. Das Mid-Morning menu in den drei Erstklasswagen (Toast, Croissants, Gebäck/ gerösteter Speck mit verschiedenen Broten/Porridge mit Bananen und Honig/ Rührei mit Rauchlachs und Sauce hollandaise sowie Früchte, Kaffee, diverse Teesorten, heisse Schokolade, Orangen- und Apfelsaft, alles im Fahrpreis inbegriffen) liess kaum Wünsche offen.
Funktionierende "Cisalpini"
Die Konzession der London Euston mit Birmingham, Manchester, Liverpool und Glasgow verbindenden West Coast Main Line hält Richard Branson, Besitzer unter anderem einer Fluggesellschaft, mit Virgin Trains. Während auf der Ostküstenlinie konventionelle Pendelzüge mit Triebköpfen verkehren, hat Virgin 53 Neigezüge gekauft. Bransons bei Metro Cammell Birmingham mit einer Lizenz von Fiat Ferroviaria gebaute "Pendolini" entsprechen ausser dem Stromsystem, der elektrischen statt hydraulischen Neigeeinrichtung und dem Design den in der Schweiz in Verruf geratenen "Cisalpini".
Die Virgin-Neigezüge funktionieren mit hohen Laufleistungen zuverlässig. Der Unternehmer Branson hat ihren Unterhalt der Lieferfirma übertragen. Alle Züge präsentieren sich ständig wie neu. Nach der Schliessung von Metro Cammell durch Bombardier arbeitet das Alstom-Werk Savigliano zurzeit an 4 zusätzlichen Kompositionen und an der Verlängerung von 31 Zügen um je 2 auf 11 Wagen.
Keine Bussen
Die Schalter kleinerer Stationen sind auch im Vereinigten Königreich geschlossen. Teure, komplizierte, Vandalen ausgesetzte und Unterhalt erfordernde Automaten werden an diesen Orten aber nicht aufgestellt. Die Regionalzüge sind durch eine Person Zugspersonal begleitet, die mit einfachen Geräten den Nichtabonnenten Billette verkauft und mit klaren Weisungen ("Asoziales Verhalten wird nicht geduldet") und Videoüberwachung für Ordnung sorgt.
Wer an bedienten Schaltern oder vorhandenen Automaten nicht rechtzeitig einen Fahrausweis erworben hat, wird von den meisten Gesellschaften mit 20 £ (30 Fr.) oder dem doppelten einfachen Fahrpreis bis zum nächsten Halt belastet. Der Geschäftsmann Branson jedoch erklärt im britischen Kursbuch stolz: "Bei Virgin werden keine Bussen erhoben". Einige Bahnen haben sich dieser kundenfreundlichen Haltung angeschlossen.
Auf Teilstrecken können Reisende oft zwischen zwei Gesellschaften wählen. Mit alten, revisionsfälligen und schmuddeligen Fahrzeugen hinterliess Arriva in Nord-Wales den ungünstigsten Eindruck. Arriva gehört der DB. "Die Deutschen übernehmen uns, Stück für Stück", stellte ein älterer Zugbegleiter fest, um dann erschrocken zu fragen, ob wir nicht etwa aus Deutschland stammten.
Weiter südlich, auf der attraktiven, 215 km langen Cambrian Coast Line von Shrewsbury nach Aberystwith und Porthmadog–Pwllheli leistet Arriva bessere Dienste und erschliesst dabei fünf dampfbetriebene Museumsbahnen. Network Rail erneuert die Strecke und hat bereits im März 2011 die ortsfesten Signale durch das europäische Zugkontrollsystem ETCS mit Übertragung aller Informationen in den Führerstand ersetzt.
Hohe Pünktlichkeit
Mit aussergewöhnlichen Leistungen überzeugen die britischen Bahnen bei der Pünktlichkeit. Von 18 bei einer zweiwöchigen Reise zwischen der Südküste, Wales, den Midlands und Nord-England benützten Zügen gelangten 11 auf die Minute genau oder zu früh und 2 mit bis zu 2 Minuten Verspätung an ihr Ziel. 5 Abweichungen (alle an der gleichen Strecke) beruhten auf Gleisarbeiten und der Beschädigung einer Bahnüberführung durch ein Strassenfahrzeug.
Zwei Reisen in früheren Jahren hatten ein ähnliches Bild ergeben. 2011 war ein Zug wegen eines Suizids ausgefallen, was die Bahn nicht kommunizierte. Im nächsten Zug versteckte sich der Zugbegleiter nicht vor kritischen Fragen, sondern erteilte Auskünfte und kontrollierte entschlossen in 20 Minuten sämtliche Billette in den zwei überfüllten Wagen.
Die Pünktlichkeit der britischen Bahnen ist umso bemerkenswerter, als sie auch betrieblich anspruchsvolle Operationen wagen. Ohne viel Zeit zu verlieren, vereinigen oder trennen sie Züge, wodurch die Reisenden weniger umsteigen müssen. Die meisten Kompositionen sind mit Stirnwandtüren versehen, die sich beim Kuppeln öffnen und einen freien Durchgang in alle Wagen ermöglichen.
Mit solchen Zügen wird bis zu 160 km/h schnell gefahren. Die Information der Fahrgäste, optisch und akustisch, erfolgt sachlich und professionell: keine "Begrüssungen" durch Automaten, keine anbiedernd falsche Freundlichkeit, kein Wort zu wenig und keines zuviel, aber alles, was man wissen muss. Als Wagen 12 nur noch Stehplätze bot, wurde umgehend auf freie Plätze im anderen Zugsteil hingewiesen.
Besser als zuvor
Seit 1945 waren die Briten wohl noch nie so zufrieden mit ihren Bahnen wie jetzt. Ausgelaugt von den enormen Leistungen im Krieg bei minimalem Unterhalt und gezeichnet von Bombenschäden waren die vier legendären Privatbahngesellschaften auf den 1. Januar 1948 von Labour verstaatlicht worden. Statt zu elektrifizieren, beschaffte British Rail mit Rücksicht auf die Arbeitsplätze im Kohlebergbau bis Ende der fünfziger Jahre Dampflokomotiven, stellte diese dann aber trotz Misserfolgen mit der Dieseltraktion schon 1968 ausser Dienst.
Der bis heute traumatisch wirkende Beeching-Plan brachte den Abbau von 6536 km Strecken und die Schliessung von 2336 Bahnhöfen. Die Regierung Margaret Thatchers hungerte die Bahn weiter aus und sorgte dafür, dass die Züge aus dem Kanaltunnel dreizehn Jahre lang auf einer alten Vorortsstrecke nach London schleichen mussten.
Die Privatisierung von British Rail bis 1997 unter John Major verlief ziemlich chaotisch. Ihren Gegnern in die Hände spielten Fehler der Infrastruktur-Gesellschaft, eine zum Teil dramatisierte Zahl von Unfällen und die Schwierigkeit, der Öffentlichkeit klar zu machen, dass heruntergewirtschaftete Strecken sich nicht rasch, nur mit Langsamfahrstellen, Sperrungen und noch mehr Verspätungen sanieren lassen.
Seit 2003 hat sich der Dualismus zwischen der wieder verstaatlichten Infrastruktur und 25 privaten Betriebsgesellschaften eingespielt. Das Schienennetz ist instand gestellt, zahllose Bahnhöfe sind sorgfältig renoviert, und ins Rollmaterial wurde massiv investiert. Die Fahrzeuge wirken gepflegt und sind nicht versprayt. Tarifiert wird nachfrageabhängig wie im Luftverkehr, durchgehende Billette kauft man wie in der Schweiz, und ein Seniorenpass gilt im ganzen Land.
An der Spitze
Die Labour Party verzichtete in ihren Regierungsjahren 1997–2010 wohlweislich darauf, den Bahnbetrieb erneut zu verstaatlichen. Bei der Nachfrage nehmen die britischen Bahnen einen Spitzenplatz ein. Gemäss der Statistik des Internationalen Eisenbahnverbandes (UIC) steigerten sie die Zahl der Personenkilometer (Anzahl Fahrgäste mal Distanz) von 1997 bis 2010 (eine jüngere Angabe liegt nicht vor) um 55 Prozent, dies namentlich in den letzten fünf Jahren. Bei der SNCF erhöhten sich die Personenkilometer dank dem TGV um 38 Prozent, bei den SBB um 36 Prozent.
Aus zwei Gründen, die sie nicht ändern können, werden die britischen Bahnen (zu denen das unter Kapazitätsengpässen leidende Londoner Untergrundbahnnetz nicht gehört) dennoch zeitweise wieder Negativ-Schlagzeilen liefern: Vororts- und südenglische Strecken sind wie Untergrundbahnen mit seitlichen Stromschienen elektrifiziert, die vor allem bei Laubfall zu Verspätungen und Zugsausfällen führen können. Die Pariser Banlieue St-Lazare wurde auf Oberleitungen umgerüstet; doch das britische Netz ist viel ausgedehnter.
Ins Gewicht fällt ferner, dass Doppelstockwagen (mit 40 Prozent mehr Sitzplätzen) auf der Insel ausgeschlossen sind, weil die Pioniere sich mit einem zu kleinen Lichtraumprofil begnügten. Der damalige charismatische CEO der SBB, Benedikt Weibel, dürfte sich dieser schwerwiegenden Nachteile bewusst geworden sein, als er nach zunächst forschen Avancen davor zurückschreckte, sich um eine englische Konzession zu bewerben.
Endlich wieder Perspektiven
Motivierte britische Eisenbahner haben bewirkt, dass die Politik den Schienenverkehr nicht mehr nur als Sanierungsfall wahrnimmt. Nach dem 2007 doch noch fertiggestellten Abschnitt vom Kanaltunnel bis London für 300 km/h schlägt David Camerons Regierung den Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke bis Glasgow und Edinburgh vor. In der Debatte eines Unterhaus-Ausschusses mit Verkehrsministerin Teresa Villiers und dem Labour-Schattenminister auf einem Niveau, das man den Politikern anderer Länder wünschen möchte, wurde eine Linienführung über den Flughafen Heathrow empfohlen.
Die Great Western Main Line soll endlich elektrifiziert, weitere Strecken sollen angeschlossen und Kurzstreckenflüge durch schnelle Züge ersetzt werden. Der überparteiliche Vorschlag hat hoffentlich Aussichten, ungeachtet der Krise innert nützlicher Frist realisiert zu werden.