Wie der immer sehr lesenswerte und oft brillante amerikanische Nahostanalyst Juan Cole in seinem Blog «Informed Comment» feststellt, steht der wiedergewählte Obama vor vier akuten Nahostkrisen, die dringend einer Lösung bedürfen. Cole zählt auf: Syrien, Bahrain, Afghanistan und Iran.
Dazu kommt natürlich auch noch die beständig schwelende, schleichende Krise um Palästina zwischen Israel und der arabischen Welt, die zur Zeit in Gaza und im Sinai besonders stark mottet. Ausserdem muss man Jordanien im Auge behalten, wo König Abdullah bemüht ist, sich an der Macht zu halten und gleichzeitig Reformen in seinem Land einzuführen. Auch Jemen gehört zu den Krisenländern, deren Zukunft dunkel und ungewiss scheint.
Die politische Seite des syrischen Ringens
Syrien ist natürlich von allen Krisen die dringendste und zurzeit die gefährlichste. Mit der gegenwärtig laufenden Konferenz der Oppositions- und Exilsyrier in Qatar ist diese bisher mehr militärische Auseinandersetzung in eine entscheidende politische Phase eingetreten. Es hat sich erwiesen, dass die bisher halboffiziell anerkannte Exilautorität, Syrian National Council (SNC), nicht in der Lage ist, die syrische Opposition auch nur einigermassen legitim zu vertreten und zu steuern. Sie zeigte sich über Monate hin trotz aller Sanierungsbestrebungen allzu gespalten und allzu fern von den syrischen Widerstandsgruppen, die den dortigen Bürgerkrieg führen.
Der «Westen» – Europa, die Vereinigten Staaten und die Türkei – hat lange Zeit versucht, mit dieser SNC, die sich meist in Istanbul aufhält, zusammenzuarbeiten. Doch mussten die verschiedenen Aussenministerien feststellen, dass diese Zusammenarbeit an den Realitäten Syriens vorbeiging, weil es dem innerlich bitter zerstrittenen «Nationalen Rat» gar nicht möglich war, das Verhalten sowie die Strategie und Taktik der gegen 200 syrischen Kampfgruppen zu beeinflussen.
Hillary Clinton gab schliesslich der Frustration aller beteiligten internationalen Partner dieses Syrischen Rates den deutlichsten Ausdruck, indem sie am 1. November erklärte, er sei als die «sichtbare Führung der Opposition» nicht brauchbar. Der Rat könne Teil einer weiter gefassten Oppositionsführung werden, doch diese habe Leute von innerhalb Syriens zu umfassen, sowie «andere, die eine legitime Stimme haben, die gehört werden sollte».
Dilemma des Westens
In den Kulissen machten die amerikanischen Berater (CIA-Leute, Militärberater und Diplomaten) sich auf, eine repräsentative und operationsfähige syrische Exilopposition zu schaffen, die als provisorische Oppositionsregierung funktionieren könnte. Natürlich wollten die Leute des SNC sich nicht auflösen. Doch die Vertreter «des Westens» sitzen am längeren Hebelarm, weil sie letztlich, gemeinsam mit Qatar und Saudi Arabien sowie anderen Golfstaatengeldgebern, über die Versorgung mit Waffen entscheiden, auf welche der syrische Widerstand auf Gedeih und Verderb angewiesen ist.
Die «westliche» Diplomatie hat durchaus die Gefahren erkannt, die in einem unkontrollierten Strom von Waffenlieferungen an syrische Kampfgruppen liegen. Es zeichnet sich schon heute die Gefahr ab, dass die islamistischen Gruppierungen und unter ihnen jene der radikalen internationalen Jihadisten in erster Linie von diesem Waffenzustrom profitieren und dass sie deshalb in die Lage kommen, den gesamten syrischen Widerstand zu dominieren. Jihadisten sind in der ganzen islamischen Welt mobilisierbar, wenn Geld zur Verfügung steht. Sie verfügen über informelle Netzwerke, die ihre Reisen und ihre Bewaffnung organisieren, so dass ihre Freiwilligen überall dort eingesetzt werden können, wo es einen «Glaubenskampf» zu führen gilt.
Dies sind Realitäten, die seit den 80er Jahren bestehen, seit der Zeit also, in welcher «der Westen» den Jihad in Afghanistan gegen die sowjetischen Besetzungstruppen ins Leben rief, organisierte und finanzierte. Hauptgeldgeber dieser «jihadistischen Internationalen» waren damals wie heute neben den Amerikanern der Staat und Private in Saudi Arabien sowie in den benachbarten Golfstaaten.
Rebellen ohne Luftabwehr chancenlos
Im Falle von Syrien tritt das Dilemma der «westlichen» Diplomatie sehr deutlich zu Tage. Seitdem das syrische Ringen im Juli auf die beiden Hauptstädte des Landes, Damaskus und Aleppo, übergegriffen hat, ging die Asad-Regierung dazu über, ihre Luftwaffe gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Früher oder später führt sie Bombenangriffe auf die von den Rebellen in Besitz genommenen städtischen Quartiere oder ländlichen Ortschaften durch und zertrümmert sie soweit, dass sie für die Rebellen, aber auch für ihre bisherigen Bewohner, unbrauchbar werden.
Die Schätzungen der UNO-Hilfswerke sagen voraus, dass es in Syrien bis zum kommenden Dezember gegen 2,5 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesene Kriegsgeschädigte geben wird, sowie gegen 700’000 Flüchtlinge jenseits der syrischen Grenzen.
Die Bombardierungen durch Kampfflugzeuge und Helikopter haben auch Einfluss auf die Moral des syrischen Widerstandes. Für die Bevölkerung, so sehr sie nach Freiheit vom Asad-Regime dürsten mag, ist es schwer, Zukunftshoffnungen und Sympathie mit den Kämpfern des Aufstandes aufrechtzuerhalten angesichts des Preises, den sie bezahlen: Ihre Häuser werden bombardiert und zertrümmert, natürlich unter grosser Gefahr für das Überleben der eigenen Angehörigen, sobald die Kämpfer in ihre Wohnviertel eindringen.
Heute ist es für die Kämpfer aus diesen Gründen von kriegsentscheidender Wichtigkeit, nicht nur über leichte Bewaffnung zu verfügen, sondern auch über Waffen, die ihnen erlauben, Kampfhelikopter und Kriegsflugzeuge abzuwehren. Über solche verfügen sie nicht, und dies ist der gewiss wichtigste Grund dafür, dass sie nicht in der Lage sind, Gebiete oder Stadtteile, die sie infiltriert und besetzt haben, auf Dauer zu halten. Was bedeutet, dass sie sich innerhalb Syriens kein eigenes Hoheitsgebiet zu schaffen vermögen. Der Himmel gehört restlos Asad, und vom Himmel aus kann er immer wieder verhindern, dass der syrische Widerstand sich irgendwo permanent festsetzen kann.
Das Beispiel Afghanistan
Die Erfahrung aus Afghanistan lehrt, das die Frage der Luftabwehrwaffen als kriegsentscheidend zu gelten hat. Als dort im Sommer 1986, im sechsten Jahre des Krieges, die Amerikaner ihre handgetragenen Luftabwehrrakten «Stinger» einführten, brachte dies den entscheidenden Umschwung im afghanischen Krieg. Die Partisanen kamen in die Lage, ihre Feinde in einigen Städten und grossen Militärlagern quasi gefangen zu halten.
Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen im Jahr 1988 versuchte die CIA mit allen Mitteln die «Stinger» zurückzukaufen, die sich nun in den Händen der verschiedenen Kommandanten des afghanischen Jihad befanden. Ihr Preis, ursprünglich 35’000 Dollar pro Stück, stieg auf 100'000 Dollar. Viele der Waffen fanden dennoch ihren Weg nach Tschetschenien, in den Iran und sogar in die Hände von Drogenschmugglern an der iranischen Ostgrenze, die daran interessiert waren, Helikopter der iranischen und der pakistanischen Armee abzuwehren. Sie sollen 300’000 Dollar pro Stück bezahlt haben. (John K. Cooley: Unholy Wars. Afghanistan, America and International Terrorism. Pluto Press, Lodon 2000 p. 173f). Noch Jahre danach mussten die Amerikaner viele Millionen ausgeben, um die «Stinger» zurückzukaufen.
Nach Syrien haben die Amerikaner keine dieser Waffen geliefert, weder auf heimlichen noch auf offenen Wegen. Doch die dortigen Kämpfer sind sich durchaus des Umstandes bewusst, dass sie solche oder vergleichbare Waffen dringend brauchen. Gäbe es eine vertrauenswürdige Exilregierung, die wirklich in der Lage wäre, das Geschehen innerhalb Syriens zu kontrollieren, so könnten die Widerstandskämpfer eher an die benötigten Waffen gelangen.
«Ratschläge» aus Washington
Die amerikanische Diplomatie hat versucht, die Bildung einer solchen Regierung voranzutreiben. Es gab Beratungen darüber in der Türkei und in Jordanien. Offenbar haben die Amerikaner sogar einen Kandidaten für die Schaffung einer «erweiterten» syrischen Exilregierung und möglicherweise zu ihrer Führung.
Er heisst Riad Saif und hatte im Jahr 2000 ein Forum für den Nationalen Dialog in Damaskus gegründet. Er war dafür mit fünf Jahren Kerkerhaft bestraft worden und kam 2011 erneut ins Gefängnis, weil er die Geschäfte der Asad-Familie öffentlich kritisiert hatte. Riad Saif war ein bedeutender Geschäftsmann gewesen, doch das Regime hatte dafür gesorgt, dass all seine Unternehmen abgewürgt wurden.
Es ist Riad Saif in der jüngsten Zeit gelungen, Syrien zu verlassen. Anscheinend hat er sich zur Lenkung der Reformversuche zur Verfügung gestellt. Doch hat er abgewinkt, als er gefragt wurde, ob er den Vorsitz einer neu formierten Exilregierung übernehmen werde. Riad Saif sagte, er sei schon 66 Jahre alt und gesundheitlich schwach; deshalb komme dies nicht in Frage.
Vertreter des syrischen Volkes?
Etwa 50 Personen aus Syrien tagen nun in Qatar, um eine reformierte Exilregierung zustandezubringen. Unter ihnen befinden sich einige Angehörige des bisherigen SNC, jedoch auch solche der Rivalenorganisation in Damaskus, des NCC (National Coordination Council for Democratic Change), Vertreter der verschiedenen Volksgruppen Syriens, darunter auch Kurden und Asad-feindliche Alawiten, sowie Vertreter der syrischen Kämpfer, wobei allerdings bei all diesen Leuten, die als «Vertreter» bezeichnet werden, zu fragen ist, wen genau sie in wiefern und wieweit vertreten. Sie wurden nicht gewählt, sondern gelten lediglich als «angesehen» bei «ihren» Volksgruppen oder Teilen von ihnen. Und dieser Status wurde ihnen letzten Endes von fremden Diplomaten und CIA-Agenten zugewiesen, die sich dabei wiederum auf ihre syrischen Berater und Vertrauensleute stützten.
Auch in dieser Hinsicht gibt es Präzedenzfälle, die wenig Gutes ahnen lassen. Man erinnere sich an die bitter rivalisierenden Vertrauensleute der Amerikaner unter den Exil-Irakern vor und unmittelbar nach der amerikanischen Invasion von 2003. Die wichtigsten waren Iyad Allawi (der Mann der CIA) und Ahmed Chalabi (der Mann der Neocon-Politiker und Rumsfelds). Beide erwiesen sich als nicht repräsentativ und letztlich als für ihre amerikanischen Sponsoren irreführend.
Droht eine Wiederholung der Geschichte?
Der Syrien-Fachmann und Kenner seines eigenen Landes, Joshua Landis, fühlt sich an die Zeiten vor dem Zusammenschluss Syriens mit Ägypten zur VAR von 1958 erinnert (siehe seinen Blog «Syria Comment» vom 3. November).
Damals versuchten die Türken, die Amerikaner und die Engländer das höchst unstabile Land Syrien durch Druck und mit zwei fehlgeschlagenen Staatsstreichen zu beeinflussen und zu «demokratisieren». Sie suchten krampfhaft nach repräsentativen Figuren in den beiden damals scharf rivalisierenden bürgerlichen Hauptparteien des Landes, ohne solche zu finden. Mit dem Resultat, dass die syrischen Offiziere und Jungpolitiker schliesslich, nach Drohgesten der türkischen Armee an der Grenze, in den Armen Abdel Nassers Zuflucht suchten.
Das Fehlen einer glaubwürdigen Exilregierung würde militärische, aber dann auch politische Folgen zeitigen. Militärisch bedeutete es, dass die Rebellen nicht in die Lage gelangen könnten, irgendwelche Gebiete in Syrien, die sie erkämpfen, auch zu halten. Politisch würde dies höchst wahrscheinlich dazu führen, dass mit der Zeit und über die nächsten zwei, drei Jahre hin die Unterstützung der Syrier für die Widerstandskämpfer abnähme. Was für das Asad-Regime die Möglichkeit eröffnen könnte, das Land weitgehend wieder in ihren Griff zu bekommen.
Aussicht auf einen langwierigen Guerillakrieg
Die Widerstandskämpfer würden wahrscheinlich nicht aufgeben. Sie sähen sich aber dazu gezwungen, das zu tun, was sie heute bereits als Möglichkeit abzeichnet, nämlich ihren Kampf statt durch einen Guerillakrieg durch Bombenanschläge weiterzuführen. Dies droht auf die Dauer ihre Volkstümlichkeit noch weiter zu reduzieren, weil es stets unschuldige Opfer der Anschläge geben wird.
Es würde auch die Behauptung des Asad-Regimes bestätigen, dass es sich bei den Widerstandskämpfern um «terroristische Banden» handle. Eine Vermehrung der Bombenanschläge ist bereits gegenwärtig festzustellen. Sie scheint in erster Linie auf das Konto der schattenhaften Islamistengruppe «al-Nusra Front» und verwandter Gruppen zu gehen. All dies würde die Perspektive eines langfristigen, zähen Bombenkrieges eröffnen, vielleicht vergleichbar mit dem, was im Irak in den Jahren 2005 und 2006 vor sich ging und was heute dort wieder aufzuleben droht.
All dies zusammen könnte am Ende sogar ausgehen wie der spanische Bürgerkrieg, nämlich mit einem Sieg der Generäle der offiziellen Armee über die Mehrheit der eigenen Bevölkerung, gefolgt von einer langen Hunger- und Elendsperiode für diese Bevölkerung.
Bildung einer Exilregierung notwendig
Heute sieht es so aus, als ob nur die Bildung einer glaubwürdigen Exilregierung ein derartiges Geschick abwenden könnte, weil eine solche notwendig wäre, um die nötige Waffenhilfe aus dem Westen zu mobilisieren und zu rechtfertigen, indem sie eine einigermassen glaubwürdige Kontrolle über diese Waffen und über die Aktionen der Kämpfer im Inneren ausüben könnte.
Kommt keine aktionsfähige Exilregierung zustande, wachsen die Aussichten auf eine immer gewichtigere Rolle der islamistischen Kampfgruppen, die gewissermassen auf eigene Faust den Bürgerkrieg vorantreiben würden, ohne der schwer bewaffneten syrischen Armee und Luftwaffe wirksam entgegentreten zu können.
Die Aussichten, dass eine aktionsfähige und verlässliche Exilregierung in Qatar zustande käme, sind nicht sehr gut. Doch angesichts der entscheidenden Bedeutung, die diesem Schritt zukäme, wagt man es nicht, von vornherein einen Fehlschlag in Qatar vorauszusagen.