Das Titel-Zitat stammt von einem erfahrenen Psychoanalytiker, den ich um Auskunft zum Phänomen der Toilettenpapier-Hamsterei gebeten hatte. Das Diktum «Wer Schiss hat, braucht WC-Papier» ist rundum überzeugend. Es trifft bei beiden Bedeutungen des saloppen Begriffs «Schiss» vollumfänglich den Sachverhalt. Und das Klopapier-Horten wird jetzt ja als ein globales Phänomen wahrgenommen.
Kein unersetzliches Produkt
Niemand bestreitet, dass beim biologisch notwendigen Gang aufs Klo in unserer Zivilisation heutzutage das Toilettenpapier zu den allgemein verbreiteten Hygiene-Utensilien gehört. Deshalb liegt es auch nahe, dass die Menschen in unseren Breitengraden (anders als in weiten Teilen Indiens und in anderen Kulturräumen) sich um genügend Vorrat an dem nützlichen Papier bemühen.
Allerdings ist dieses in praktischen Rollen verkaufte Produkt keineswegs unersetzlich. Wir Angehörige der Risiko-Generation können uns durchaus noch daran erinnern, dass alte Zeitungen oder sorgfältig zerschnittene ausrangierte Telefonbücher einst den gleichen Zweck wie das weiche Klopapier vom Supermarkt erfüllten – nur vielleicht nicht mit gleichem Grad an Komfort. Und wer je in einem Pfadfinderlager oder auf einem «wilden» Zeltplatz Erfahrungen gesammelt hat, könnte vermutlich berichten, dass man nötigenfalls die Reinigung beim Toilettengang am Waldrand oder hinter einem Busch auch mit Laubblättern oder Wasser aus dem Bach erledigen kann.
Angst vor Kontrollverlust
Verglichen mit Grundnahrungsmitteln wie Brot, Reis, Teigwaren müsste eigentlich das Toilettenpapier schon wegen dieser Ersetzbarkeit im Falle einer Quarantäne weiter unten auf der Liste lebensnotwendiger Güter stehen. Bei den Notvorräten, die man in früheren Jahrzehnten auf Empfehlung der Behörden in Schweizer Haushalten anzulegen pflegte, gehörten meines Wissens die weichen Papierrollen nicht zum Kernbestand. Weshalb ist das in der Corona-Krise anders?
Hier kommt die zweite Bedeutung von «Schiss» ins Spiel. Es ist ein Populärwort für Angst. Das Virus ist ein unsichtbarer Feind. Und wenn man diesen Feind nicht sehen könne, werde man umso mehr von Ängsten vor Kontrollverlust geplagt, heisst es in einem Beitrag auf dem Internetportal der «Deutschen Welle». Um solche Kontrollverluste zu kompensieren, beginne man Dinge übermässig zu kaufen, die zur Reinhaltung des eigenen Wohnraums dienen könnten – und von denen man gesehen habe, dass andere Leute sie auch in grösseren Mengen horteten.
Toilette und Traumdeutung
Um Ängste – oder eben Schiss – geht es im Zusammenhang mit dem Toilettenthema auch bei der psychoanalytischen Traumdeutung in der Tradition von Siegmund Freud. Die glatte Erfüllung des Stuhlgangs gehört nach dieser Schule zu den urtümlichsten Trieben des Menschen, ebenso wie der Sexualtrieb. Tauche im Traum eine Toilettenbenützung auf, die störungsfrei verlaufe, so sei das als «Akt der seelischen Entlastung und Befreiung» zu deuten, lesen wir im Internet zu diesem Komplex.
Gelingt indessen im Traumgeschehen ein Toilettengeschäft nicht problemlos, so verweise das auf innere Blockaden und Ängste. So läge denn auch dem Horten von WC-Papier die unbewusste Angst vor gestörten Toilettengängen zugrunde – und damit wiederum die Angst vor Kontrollverlust und seelischer Unordnung.
Man merkt, beim Nachdenken über die leeren Klopapier-Gestelle in den Läden von Sidney über Buenos Aires bis Moskau und Zürich gerät man auf ein weites Feld von tieferen Bedeutungen.