Am Dienstag geht die Vorwahlperiode für die ägyptischen Präsidentenwahlen zu Ende. Am Mittwoch und Donnerstag, am 23. und 24. Mai, findet der erste Wahlgang statt. Ein zweiter wird sehr wahrscheinlich notwendig werden. Er ist auf den 7. Juni angesetzt. Wenn der Präsident gewählt sein wird, werden die Offiziere von SCAF (des Militärrates) ihre Mission als beendet ansehen. Jedenfalls haben sie dies heilig versprochen.
Im Gegensatz zur vorausgegangenen Parlamentswahl, die im vergangenen Januar ohne allzu grosse politische Spannungen ablief, ist die Vorwahlperiode diesmal voller Turbulenzen gewesen. Diese begannen mit der Ausschaltung der gewichtigsten Präsidentschaftskandidaten durch die Wahlkommission. Der Kandidat, dem die besten Aussichten zugesprochen wurden, der Muslimbruder Khairat al-Shater, wurde von den Wahlen ausgeschlossen, ebenso Hazem Salah Abu Ismail, der charismatische Prediger und Kandidat der Salafisten. Ihre Partei, "Nur" ("Licht"), war als die zweitgrösste Partei aus den Parlamentswahlen hervorgegangen. Khairat al-Shatir wurde ausgeschieden wegen angeblich noch gültiger Vorbestrafung, der Salafist, weil seine Mutter einen amerikanischen Pass besass.
Ein Blutbad vor dem Verteidigungsministerium
Die Salafisten waren dermassen aufgebracht, dass ihre Demonstranten Tage und Nächte lang das Verfassungsgericht und das Verteidigungsministerium belagerten. Einige der Revolutionsgruppen machten mit ihnen gemeinsame Sache. Alle forderten den sofortigen Rücktritt der Militärführung. Am 4. Mai fielen die Schläger des Innenministeriums über die Demonstranten her. Es gab elf Tote und Hunderte Verletzte. Die Armee verhängte darauf ein nächtliches Ausgehverbot in den betroffenen Zonen der Grossstadt. Wie immer bei derartigen Anlässen wurde von den offiziellen Sprechern behauptet, es seien die Bewohner des betroffenen Quartiers gewesen, die sich gegen die Demonstranten "gewehrt" hätten. Wie immer wurde eine Untersuchung der Ereignisse angeordnet. Doch diese wird wohl im Sande verlaufen.
Aufbegehren im Parlament
Diese Geschehnisse lösten böses Blut im Parlament aus. Einige der Abgeordneten äusserten den Verdacht, die Vorfälle seien inszeniert worden, um Gelegenheit zu erhalten, das Parlament aufzulösen. Andere brachten erneut den Paragraphen 28 der Anordnung über die Wahlkommission aufs Tapet. Dieser erklärt, alle Entscheide dieser Wahlkommission seien unantastbar und könnten nicht vor Gericht angefochten werden. Der Verdacht wurde geäussert, dass diese Bestimmung von der Militärführung SCAF dazu gebraucht werden könnte, um die Wahlen zu fälschen. Die Wahlkommission wurde von den Militärs eingesetzt. Ihr Vorsitzender, Faruk Sultan, ist ein General und ehemaliger Militärrichter. Er wurde von Mubarak im Jahre 2009 auf den Posten eines Vorsitzenden des Verfassungsgerichtes befördert. Das ist die oberste richterliche Funktion in Ägypten. Dies sind Umstände, auf die sich derartige Anklagen stützen können.
Das Parlament im Streit mit dem Militärrat und mit den Richtern
Die Wahlkommission war beleidigt und erklärte, sie lege ihre Aufgabe nieder und trete zurück. Doch dies blieb ohne Folgen. Vermutlich erhielten die Kommissionsmitglieder einen Wink von SCAF, dass sie auf alle Fälle ihre Pflicht zu tun hätten.
Die Parlamentsmehrheit aus Muslimbrüdern und Salafisten wollte auch die Regierung entlassen. Doch SCAF erklärte, die Parlamentarier seien dazu nicht ermächtigt, solange SCAF die Macht ausübe. Schliesslich gab SCAF ein bisschen nach, indem es eine kleine Umbesetzung im Ministerrat anordnete. Elastisches Zurückweichen ist stets die Methode der Offiziere gewesen, die dazu diente, ihre Macht zu erhalten, aber gleichzeitig auch die aufgebrachte Bevölkerung oder deren Vertreter im Parlament zu beruhigen.
Das Parlament suspendiert
Ein weiterer Stein des Anstosses waren die Gerichte. Die Parlamentarier versuchten, eine neue Gerichtsordnung aufzustellen und die bisherigen Richter aus der Zeit Mubaraks zu entlassen. Dies empörte die Richter, die auf ihre Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit pochten und sogar einzelne Parlamentarier wegen Missachtung der Gerichte anklagten.
Schliesslich erklärte der Parlamentssprecher, der Muslimbruder Katatni, das Parlament sei suspendiert bis nach den Präsidenschaftswahlen. Dabei blieb offen, ob er das auf einen Wink des Militärrates hin tat oder aus eigenem Ermessen. Die Auflösung des Parlaments trug sicher zur Beruhigung des Wahlprozesses bei. Ein weiterer Schlagaustausch zwischen Exekutive (die von den Militärs geleitet wird), den Gerichten (die dem Militär zuneigen) und den Parlamentariern (die keine Gesetze verabschieden dürfen, bis ein neuer Präsident gewählt wird) hätte die Spannung weiter angeheizt.
Vier Spitzenkandidaten
Inzwischen lief die Wahlkampagne. Sie brachte vier Spitzenläufer unter den elf verbliebenen Kandidaten hervor. Zwei, die schon unter Mubarak in der Politik prominent waren: den ehemaligen Aussenminister und späteren Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa sowie Ahmed Shafik, den früheren Luftwaffenkommandanten, Minister für das Flugwesen und Mubaraks Ministerpräsidenten der letzten Stunde.
Zwei weitere gehören zum Umkreis der Muslimbrüder: der offizielle Kandidat der Bruderschaft und bisherige Vorsitzende ihrer Partei "Freiheit und Gerechtigkeit", Muhammed Morsi, sowie der ehemalige Muslimbruder, Dr. Abdel Moneim Abul-Futuh. Er gehört dem liberalen Flügel der Brüder an und war im vergangenen Jahr aus der Bruderschaft ausgestossen worden. Der Grund: Er wollte für die Präsidentenwahl kandidieren, und zwar zu einer Zeit, in der die Bruderschaft sagte, sie wolle keinen Kandidaten aufstellen.
Später kam sie auf diesen Beschluss zurück und stellte zwei Kandidaten auf, zuerst den von der Kommission abgelehnten Khairat al Shatir, dann als dessen Ersatz Muhammed Morsi. Unter den vier Spitzenkandidaten hat sich Morsi bis jetzt als der schwächste erwiesen.
Laut den letzten Umfragen erreicht er nur etwa 9,5 Prozent der Stimmen – allerdings mit steigender Tendenz. Vorletzte Woche lag er noch bei fünf Prozent. Dies lässt den Schluss zu, dass er möglicherweise dank der straffen Organisation der Muslimbrüder noch aufholen könnte.
Die drei anderen Kandidaten liegen alle bei etwa 15 Prozent. Dreissig Prozent der Befragten sind noch unentschieden. Damit ist das Endergebnis noch offen.
Die Hürde von 20 Prozent hatte in der vorhergehenden Woche nur nur Abdel Moneim Abul-Futuh geschafft. Dies wurde möglich, weil die Salafisten beschlossen hatten für ihn und nicht für den offiziellen Kandidaten der Muslimbrüder, Morsi, zu stimmen. Der Wunschkandidat der Salafisten war zuvor von der Wahl ausgeschlossen worden. Doch die guten Werte von Abdel Moneim Abul-Futuh brachen in den letzten Tagen wieder ein und liegen jetzt bei 13,2 Prozent.
Mit mir und meinem Feind paktieren
Die Wahlauguren glauben, dass seine sinkenden Werte darauf zurückzuführen sind, dass er zwei gegenteilige Gruppierungen zu gewinnen sucht. Er hat in der Tat bewusst den Versuch unternommen, den Graben zwischen säkularen und islamischen Wählern zu überbrücken. Er versucht einerseits die Salafisten und anderseits die revolutionäre und progressive Jugend anzusprechen. Die Beobachter meinen, dies habe dazu geführt, dass nun weder die Islamisten noch die Säkulären ihm voll vertrauten. Jede der beiden Fronten sagt sich: Wenn er zugleich mit mir und mit meinen Feinden paktiert, ist ihm nicht zu trauen.
Ein Nasserist taucht auf
Die Absicht, den ideologischen Graben zu überbrücken, war gewiss lobenswert. Dieser Graben droht alle sachlichen Fragen in der ägyptischen Politik in den Schatten der ideologischen Auseinandersetzung zu stellen. Doch das Wahlresultat muss zeigen, ob eine Überwindung der ideologischen Kluft heute noch möglich ist.
Was Abdel Muneim Abul-Futuh in der letzten Woche der Wahlkampagne verloren hat, schien einem neu aufsteigenden Kandidaten zugute zu kommen. Es handelt sich um den "nasseristischen" Politiker Hamdan Sabahi. Er kam laut Meinungsumfragen letzte Woche nur auf fünf Prozent der Stimmen, diese Woche jedoch schon auf 12,3 Prozent. Er ist der jüngste unter den Kandidaten und vertritt den Arabischen Sozialismus nasserscher Färbung. Möglicherweise haben sich viele der Revolutionäre, Progressisten und Säkularen ihm zugewandt – jene Kräfte also, die es dem ehemaligen Muslimbruder Abul-Futuh übel nahmen, mit den Salafisten zusammenzuarbeiten.
Ganz vorne der Kandidat für Ruhe und Ordnung
Laut Meinungsumfragen liegt zur Zeit Ahmed Schafik an erster Stelle. Für den General und Luftwaffenchef werden heute 15,8 Prozent der Stimmen prognostiziert. Dass er zu den Spitzenreitern gehört, wird von den Beobachtern damit erklärt, dass mehr und mehr Ägypter sich über die wachsende Unsicherheit in ihrem Lande Sorge machen. Die kleinen und grossen Verbrechen und die politischen Unruhen haben stark zugenommen. Ägypten, bisher ein armes aber sehr friedliches und geduldiges Land, war an Sicherheit auf den Strassen und in den privaten Wohnungen und Hütten gewöhnt.
Es fehlt nicht an Stimmen, die behaupten, möglicherweise sei die Zunahme von Gewalt und Verbrechen beabsichtigte Politik der Militärs. Vielleicht habe die Polizei Weisung, sich wenig aktiv zu zeigen. So wolle das Militär der Bevölkerung demonstrieren, dass die Ordnungskräfte trotz aller Revolution eben doch notwendig seien. Ob dies zutrifft, ist ungewiss. Man kann die gegenwärtige Lage und sogar die vermutete Zurückhaltung der Polizei auch damit erklären, dass die Ordnungskräfte unter der dunklen Wolke der Revolution und ihrer Kritik von sich aus Zurückhaltung üben und wenig Einsatzbereitschaft zeigen. Doch Umfragen zeigen, dass immer mehr Ägyptern von der Revolution enttäuscht sind. Sie wünschen eine Rückkehr in ruhigere und – womöglich – in wirtschaftlich bessere Zeiten.