Die Anzahl der laufenden Asylgesuche erreicht Allzeit-Spitzenwerte. Das Problem beschäftigt alle Schweizerinnen und Schweizer. Denn Wegschauen ist nicht mehr verantwortbar. Das Gleiche gilt aber auch für unsere Nachbarn – die EU-Staaten. Wie weiter?
Noch immer gefallen sich unsere politischen Parteien grösstenteils mit gegenseitigen Schuldzuweisungen, deplatzierten Sticheleien, unangebrachter, oft verlogener Parteipropaganda. Während da das offensichtliche Problem verniedlicht wird – «Eng ist es nicht im Land, sondern in den Köpfen» (NZZ) – wird dort «Keine 10-Millionen-Schweiz!» (Extrablatt SVP) erfolgreich auf billigen Wahlkampf geschaltet und auf Panik gemacht. Eine ähnliche Propagandawelle schwappte schon vor 10 Jahren über unser Land, natürlich mit anderen Zahlen als Ausgangslage.
Wir sind als Land nicht viel weiter als damals. Die Thematik wird von den politischen Parteien in erster Linie aus wahltaktischen Gründen verfolgt. Das heisst: Jeder gegen jeden – als wären wir damit Lösungsansätzen auch nur ein bisschen nähergekommen. Das darf und muss kritisiert werden, denn eine Demokratie lebt nicht zuletzt von der Kritik seiner Bürgerinnen und Bürger. Diese dürfen von ihren «in die Politik Delegierten» Lösungen erwarten – zielgerichtete Kooperation statt permanentem Kampf.
Propaganda von Tatsachen trennen
Natürlich hatte die SVP – das war zu erwarten – mit ihrem Fokus auf die Zuwanderung bei den Parlamentswahlen am 22.10.2023 leichtes Spiel und sie legte denn auch 3 Prozent an Wählerstimmen zu. Ich kritisiere an dieser Stille aber vor allem die anderen politischen Parteien, denn sie sind – wenn überhaupt – zu spät aufgewacht: Das Bevölkerungswachstum im Land ist zu gross für eine erdrückende Volksmehrheit. Die Menschen machen sich Sorgen. Sie fühlen sich ohnmächtig. Diese Stimmung ist gefährlich für jede Demokratie.
Die Stimmung im Volk wird natürlich beeinflusst durch Propagandakampagnen. Dafür steht seit vielen Jahren in erster Linie das «Extrablatt» der SVP, gratis in alle Haushaltungen geliefert (was nicht als Finanzierung der persönlichen Wahlkampagnen der National- und Ständeratskandidatinnen und -kandidaten erfasst wurde). Die Unterscheidung in Propaganda und Tatsache ist relativ einfach. «Für eine sichere Zukunft in Freiheit» lesen wir da zum Beispiel. Wer kann das uns schon garantieren? Populistische Propaganda in Reinkultur.
Dass sich diese Art helvetischer Propagandapolitik bezahlt macht, zeigen die Wahlresultate vom 22. Oktober 2023: Die SVP erzielte einen veritablen Erdrutschsieg und legte von 53 auf 62 Nationalratssitze (Wähleranteil neu 28,6%) zu.
Zusammen oder gegen die EU?
Die Asylagentur der EU (EUAA) vermeldete für die ersten sechs Monate des Jahres 2023 einen Zuwachs von Asylgesuchen von 18 Prozent gegenüber derselben Periode des Vorjahres, es sind dies 519'000 Gesuche. Auf Lampedusa kamen im September Tausende Geflüchtete an – allein am Dienstag, den 19.09.2023 waren es mehr als 5’000. Auf der italienischen Insel ist der Notstand ausgerufen, die Stimmung in der Bevölkerung könnte kippen. Die vertraglich vereinbarte Verteilung auf die einzelnen EU-Länder funktioniert schlecht – es gibt Mitgliedstaaten, die sich schlicht weigern, Asylsuchende zu übernehmen.
Anders als in früheren Jahren verzeichnet Europa Asylsuchende nicht nur vornehmlich aus Syrien, Afghanistan und Irak, sondern auch aus der Türkei, Venezuela und Kolumbien (Sonderfall Ukraine nicht mitgezählt). Vor allem die gefährliche Mittelmeerroute wird wieder mehr gewählt. Allein in den letzten zehn Jahren starben dort 17’000 Personen.
Raumplanungsgesetz und Arbeitsmarkt, ein Widerspruch?
Es ist nicht nur der Druck aus dem Ausland (wie man uns manchmal weismachen will), tatsächlich haben wir uns 2014 mit dem neuen Raumplanungsgesetz teilweise selbst die Wohnungsknappheit zuzuschreiben. Wie Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen (früher CS) in der NZZ am Sonntag erklärt, «hat die Schweiz früher Wachstumsschübe gemeistert, indem auf der grünen Wiese zusätzliches Bauland eingezont werden konnte». Doch seither gilt die Maxime der Entwicklung nach innen – Verdichtung – ist dies kaum noch möglich.
Täglich lesen wir zudem in den Medien, dass in Dörfern und Städten die Einsprachen gegen neue Bauvorhaben stark zugenommen haben. Dadurch werden viele Neubauprojekte um Jahre verzögert (die Rekursstellen sind stark überlastet), ja es soll Vorhaben geben, die als direkte Folge zurückgestellt oder auf die ganz verzichtet wird. Kein Wunder, wird bei rund zusätzlichen 150’000 Personen jährlich der Wohnbevölkerung Dichtestress spürbar.
Schweizerinnen und Schweizer wollen nicht, dass die verbleibenden Grünzonen endlos überbaut werden. Verständlich. Gleichzeitig ist unser Arbeitsmarkt ausgetrocknet, beklagen wir einen zermürbenden Fachkräftemangel und rufen dringend nach zusätzlichen Arbeitskräften aus dem Ausland – unsere Politikerinnen und Politiker stehen vor grossen Herausforderungen.
Dass die Wohnbautätigkeit momentan abnimmt, ist unschön, doch auch da sind wir an dieser Entwicklung nicht unschuldig. Immer mehr Regulierungen, laufend neue Gesetze zum Schutz der Mieterinnen und Mieter – schliesslich werden dadurch Liegenschaftenbesitzende (private und institutionelle wie Versicherungen und Banken) vergrault und potentielles Investitionskapital fliesst in andere Kanäle.
Falsche Versprechungen, neue Lösungen?
In dieser Zwickmühle verspricht uns die SVP «eine sichere Zukunft in Freiheit», Tönt ja gut, aber ist nicht gerade ehrlich, dieses Versprechen. Gemäss Umfragen wollen 62 Prozent unserer Bevölkerung die Zuwanderung beschränken – etwa mit Kontingenten (Tages-Anzeiger). Vielleicht müssen wir nach Norden schauen – dort sollen ähnliche Einwanderungs-Probleme in Finnland und Schweden mit deutlichen Einschränkungen gelindert werden. Zeichnen sich da gar europäische Kooperationen zur Problemlösung ab?
Neue Problemlösungen sind jetzt im Land dringend gefragt. Es wird sich weisen, ob National- und Ständerat dazu fähig sind.