Die Gruppe „Islamischer Staat im Irak“ hatte schon am 31. Oktober 2010 in Bagdad einen schweren Anschlag gegen Christen verübt. Man nimmt an, dass die Gruppe zum Qaida-Netzwerk gehört. In ihrem damaligen Bekennerschreiben drohte sie ausdrücklich mit Anschlägen in Ägypten. In dem Schreiben wird den ägyptischen Christen vorgeworfen, sie würden mit Gewalt Menschen daran hindern, zum Islam überzutreten.
Mubarak hatte die Bevölkerung aufgerufen, sie sollte gegen die „verbrecherischen Hände, die aus dem Ausland einwirken wollten“ zusammenstehen. Doch der Hinweis Mubaraks auf „ausländische Elemente“ wurde weder von den Muslimen noch von den Kopten ernsthaft zur Kenntnis genommen.
Verschwörungstheorien
Offenbar ist beiden Seiten nur allzu deutlich bewusst, dass in Ägypten seit geraumer Zeit zunehmende Spannungen zwischen den Muslimen und den Kopten bestehen. So fiel der Aufruf des Präsidenten auf taube Ohren. Die Kopten tadeln offenbar in erster Linie die ägyptischen Sicherheitsdienste, ihre Kirche nicht entschlossen genug verteidigt zu haben. Viele Kopten vermuten, dies sei nicht bloss aus Nachlässigkeit geschehen, sondern vielmehr aus bösem Willen. Die Sicherheitsdienste, in denen in der Tat fast ausschliesslich Sunniten arbeiten und die von sunnitischen Offizieren geleitet werden, seien gewillt, ein Massaker an den Christen nicht aufzuhalten - oder gar es zu begünstigen.
Argumente, die solche Verschwörungstheorien stützen, fehlen ihnen nicht. So heisst es, die Sicherheitsdienste, die doch als beinahe allwissend gälten, müssten ohne Frage gewusst haben, was geplant worden sei.
Viele Muslime sind empört, dass die Kopten sie für den Anschlag verantwortlich machen wollen. Solche Terrorakte seien nicht „islamisch“. Auch die Muslime haben ihre Verschwörungstheorien. Sie werfen den Kopten vor, das Attentat auszunützen, um die Muslime unter Druck zu setzen.
Kritik an der ägyptischen Religionspolitik
Es gibt aber auch durchaus einsichtige Beobachter und Analytiker. Sie sind empört, wir rasch und routiniert ihr Präsident die Verantwortung für den Terroranschlag auf das Ausland abschob. Sie wissen, dass in Ägypten selbst eine gefährliche Kluft zwischen den beiden Religionsgemeinschaften besteht, die immer tiefer wird. Sie fordern, dass Brücken zwischen den beiden Religionen gebaut werden – anstatt die Kluft zu ignorieren.
"J'accuse!"
In Ägypten ist es nicht ungefährlich, dem Staatschef öffentlich zu widersprechen. Doch Hani Shukrallah, der frühere Herausgeber der englischen Wochenausgabe der bekanntesten Tageszeitung von Kairo, al-Ahram, hat es gewagt. Er schrieb in al-Ahram unter dem Titel « J'accuse », dass er kein Zola sei, aber auch seine Stimme erheben dürfe.
Die rituelle Verdammung von al-Qaida hätte es schon oft gegeben und hätte gar nichts genützt, sagt er. Die Lage der Kopten sei immer nur schlechter geworden. Die Regierung „scheine zu glauben, dass wenn man die Islamisten übertrumpfe, man sie überwinden würde“. Er kritisiere die Abgeordneten und Regierungsbeamten, die ihre persönliche Frömmelei ins Parlament einbrächten. Er beschuldige die staatlichen Stellen. Sie glaubten, wenn sie die salafitische Religionsrichtung förderten, würden sie die Muslimbrüder bekämpften. Doch am meisten kritisierte er die Millionen von „scheinbar gemässigten Muslimen unter uns, die Jahr um Jahr mehr Vorurteile“ hätten und die engstirniger geworden sind.
„Ich bin herumgekommen“, schreibt er, „und habe mich an euren gastlichen Tafeln und in euren Clubs umgehört : Das hiess es: ‚Den Kopten muss eine Lektion erteilt werden!‘ - ‚Die Kopten werden immer arroganter!‘ – ‚Die Kopten verheimlichen es, wenn Christen zum Islam übertreten‘ - ‚Sie hindern christliche Frauen daran, zum Islam überzutreten, sie kidnappen sie und schliessen sie in die Klöster ein‘“.
„Schliessich klage ich auch die Intellektuellen an“, fährt er fort. Sie sind „entweder mitschuldig oder haben Angst, den Massen zu widersprechen. Sie glauben es genüge, ab und zu in den wirkungslosen Chor jener einzustimmen, die die Gewalt verurteilen. In der Zwischenzeit gäbe es immer mehr Massaker und sie würden immer schrecklicher.
„Sind wir so weit verarmt und so initiativlos geworden“, fragt er, „dass wir nur noch die Wahl vor uns sehen, entweder die Kopten töten zu lassen, oder zu Onkel Sam zu rennen? Ist es wirklich so schwierig, uns selbst als Leute zu sehen, die ein Minimum an Rückgrat besitzen und selber handeln, um unser Geschick zu bestimmen? Das Geschick unserer Nation? Dies ist in der Tat die einzige Option die wir haben, wir sollten sie anpacken, bevor es zu spät wird!“.
Er fasst dann zusammen: „Schöntuerei und gute Absichten werden das nächste Massaker nicht verhindern. Verhindert werden kann dies nur durch einen klareren Blick auf uns selbst und genügend Entschlossenheit, um das Böse in unserer Mitte zu erkennen.“
Kommentar für Nicht-Ägypter
Dies alles ist für Ägypter geschrieben. Möglicherweise benötigt es einen Kommentar für Europäer, welche die Lage nicht so gut kennen. Die Anspielung auf Onkel Sam bezieht sich auf einen Streit, der nach dem Anschlag zwischen dem Oberhaupt der koptischen Kirche, dem Papst der Kopten, und dem Oberhaupt der Azhar Moschee ausgebrochen ist. Der "Baba" (Papst) rief die Amerikaner auf, sich der ägyptischen Kopten anzunehmen. Der Vorsteher der al-Azahr Moschee entgegnete ihm, es sei eine Schande, sich in einer innerägyptischen Angelegenheit an die Fremden zu wenden.
Grundsätzlich empört sich Shukrallah über die Politik, die in Ägypten Staat und Gesellschaft seit Jahren praktizieren. Behörden und Politiker fördern systematisch jene Art von Frömmigkeit, die als die salafistische Richtung im Islam bezeichnet wird.
„Salaf“ bedeutet „Nachfolge“. Die salafistische Richtung stellt das Vorbild des Propheten ins Zentrum des Religionsverständnisses. Es ist die Religionstendenz, die in Saudi Arabien vorherrscht, und für deren Ausbreitung die Saudis viel Geld ausgeben. Ihre Anhänger sagen, ein guter Muslim müsse sich genau so verhalten, wie es der Prophet und seine Mitkämpfer schildern – ohne Rücksichtnahme auf den Wandel der Zeiten. Hinweise im Koran und die Texte historischer Quellen müssten wortwörtlich befolgt werden.
Angst vor der Eliminierung der Kopten
Ein solches Religionsverständnis, so die gewiss berechtigte Kritik, führt zu einem engen Weltbild und fördert die Heuchelei. Vor allem deshalb, weil die Vorschriften aus der glorifizierten Gründerepoche äusserlich befolgt, aber im stillen Kämmerlein und hinter den hohen Palastmauern übergangen werden. Die salafistische Richtung wird dennoch vom ägyptischen Staat gefördert. Sie wurde über die Jahre hinweg von grossen Teilen der Bevölkerung mitgetragen. Die führenden Köpfe im Staat verbinden die frömmelnde Religionsrichtung mit der Hoffnung, mit ihr liesse sich den gewaltbereiten islamistischen Rebellen das Wasser abgraben.
Shukrallah hebt hervor, dass dies eine Illusion sei. Der zunehmend enge und frömmelnde Ton in der ganzen Gesellschaft, so sieht er es, diene vielmehr dazu, die liberalen Grundsätze, auf denen der ägyptische Nationalstaat mit der Zusammenarbeit von Kopten und Muslimen beruhen sollte, zu untergraben. Dies könnte, so befürchtet er, zur völligen Eliminierung der Kopten führen, die seit Beginn des Christentums in Ägypten leben. In diesem Fall, so schreibt er, wäre Ägypten nicht mehr Ägypten.
Andere warnen, dass der gefährliche Weg, den die ägyptische Führung zusammen mit grossen Teilen der Gesellschaft beschreite, zu einem Bürgerkrieg führen könnte.