Wir leben nicht nur unter wohlwollenden und friedliebenden Menschen. Auch die Opernwelt belegt, dass gewissenlose Schurken und machtgierige Verbrecher mitten unter uns am Werk sind.
Wir kennen diese sinister-gefährlichen Figuren vom Jago- und Mephisto-Typ. Das sind von Ehrgeiz, Reichtum, Eifersucht und Rachgier gejagte und zerfressene Menschen, die den ihnen Nahestehenden und im Leben Liebe und Dankbarkeit Suchenden das Erdenglück zur Hölle machen. Sie sind bereits seit den Anfängen des Musiktheaters von den Sprechbühnen in die Opernhäuser eingewandert. Vermutlich, weil das Geheimnis des Bösen ebenso wie jenes des Guten mit Musik besser zu verstehen ist als ohne Musik.
Die Barockzeit hat das unheimlich Böse oft auch in Frauengestalten verkörpert sehen wollen und diese dann als Zauberinnen, Hexen, Giftmischerinnen und Wahrsagerinnen kommenden Unheils auf die Bühne geschickt. So lebten die antiken Circen mit Liebes- und Schadenspotential als Skylla, Medea, Alcina und Lady Macbeth bis in die Romantik hinein weiter und belebten unseren Bedarf nach Figurationen des real Bösen in der Welt.
Der Komponist als Alleskönner
Einer der grössten Klangmagier des 20. Jahrhunderts war mit Sicherheit Igor Strawinsky (1882–1971). Angefangen mit seinen frühen Balletten bis hinein in die kompositorische Zwölftontechnik seiner späten Jahre hat er in der ihm eigenen ungehemmten musikalischen Neugier versucht, sich in vergangene, aber ebenso in zeitgenössische Musikstile zu «verkleiden». Dabei hat er sich als das wohl begabteste Chamäleon der Musikgeschichte erwiesen. So kennen wir Strawinsky als Märchen-Romantiker, als Expressionisten, als Naturalisten, ja sogar als barbarischen «Primitivisten», aber ebenso als faszinierenden Neo-Klassiker, der uns Renaissance- und Barockmusik neu erleben liess. Immer und in jeder Verkleidung bleibt alles, was er komponiert jedoch: unverkennbarer Strawinsky!
Auch im Opern- und Oratorienbereich war er ein Tausendsassa, der traditionelle Formen und Zwischenformen jeder Art von musikalischem Divertissement ausprobieren wollte. Von der lyrischen Fabel («Le rossignol») zum Kammer-Theater («L’histoire du soldat»), von Ballett-Kantaten («Mavra», «Les Noces») zu griechischen Tragödien («Oedipus Rex»), von Formen des Tanz-Theaters («Apollon Musagète») zum Ballett-Melodrama («Perséphone»): alles gelang ihm – zusätzlich zu seiner Instrumentalmusik – vortrefflich und brachte ihm nach und nach weltweit Ruhm und neidlose Anerkennung ein.
Als Strawinsky während des 2. Weltkrieges bereits in den USA lebte, entschloss er sich, eine abendfüllende Oper zu schreiben. Im Mai 1947 stiess er in einem Museum in Chicago auf die Serie von acht Kupferstichen, die der englische Maler William Hogarth um 1733 geschaffen hatte und die das Thema «The Rake’s Progress» zum Inhalt hatten. Dass es sich um satirische, ja sarkastische Kommentare zur Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts handelt, erkennt man bereits am Titel. Diesen kann man als «Die Karriere eines Nichtsnutzes» übersetzen, in Tat und Wahrheit bedeutet er aber: «Der Niedergang eines Wüstlings». Als reicher verliebter Erbe beginnt dieser Tom Rakewell (man könnte seinen Namen als Tom «Raffe vorteilhaft!» übersetzen) sein Leben, das Schritt um Schritt über Wirtshaus, Bordell, Spielsalon und Gefängnis schliesslich im Irrenhaus endet.
Strawinsky hatte das grosse Glück, für seinen Plan zwei begnadete Künstler als Librettisten zu finden: den bereits sehr bekannten amerikanischen Lyriker H. W. Auden und dessen theatererfahrenen Kollegen Chester Kallman. Die beiden teilten sich die Aufgaben der neun Szenen in drei Akten untereinander auf. Zustande kam ein Opernlibretto, von dem ein Komponist, der zum Text auch noch ein Wörtchen mitreden kann und will, als Ausgangslage nur träumen kann.
Der Zauber des moralischen Zerfalls
Den deutschsprachigen Literaturkundigen ist diese Parodie Hogarths auf das berühmte englische Erbauungsbuch des 17. Jahrhunderts – John Bunyans «The Pilgrim’s Progress» (1678) – durch Georg Christoph Lichtenbergs «Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche» (1794) bekannt. Diese Schrift Lichtenbergs hat für die Wirkungsgeschichte Hogarths europaweit aufklärerische Folgen gehabt. Strawinsky fand hier einen Stoff, den er durch Rückgriffe in die Operngeschichte musikalisch voll und ganz – und dazu augenzwinkernd ironisch – ausloten konnte.
Es ist geradezu unglaublich, welche Vielfalt Strawinsky an in der Oper vertrauten Formen in seine Partitur hat einfliessen lassen: Rezitativ und Arie, Arioso und Ballade, Cavatine und Stretto, Duette und Terzette, grössere Ensembles und Chorszenen. Kurzum: Ein Koch könnte seine Menükarte kaum reicher gestalten, als es hier ein moderner Komponist mit dem traditionellen Formenreichtum der Operngeschichte tut. Man ist einfach bis heute darüber erstaunt – und durchgehend entzückt!
Dies haben in unserer Zeit auch Intendanten, Regisseure, Dirigentinnen und Sängerinnen entdeckt. So sind inzwischen grossartige Einspielungen des Werkes auf dem Markt, von Dirigenten wie Bernard Haitink, John Eliot Gardiner, Kent Nagano oder Barbara Hannigan.
Eine wunderbare Anne Truelove
Wir wollen hier die Stationen des Niedergangs dieses liederlichen, menschlich am Lebensende mitleiderregenden «Wüstlings» nicht nacherzählen. Er hatte halt einen falschen Ratgeber und Einflüsterer namens Nick Shadow (ein anderer Name für den Teufel selbst) an seiner Seite. Unsere Sympathie gewinnt er allein durch Anne, seine Jugendliebe, die ihn am Ende der Oper im Irrenhaus besucht. Er hält sich inzwischen für den schönen Adonis, in seiner ersten Geliebten Anne erkennt er jetzt die Schönheitsgöttin Venus, die ihn mit einem Wiegenlied in den Schlaf singt. Für Wüstlinge ist der Wahnsinn am Ende des Lebens offenbar so etwas wie eine Erlösung.
Als Musikbeispiel für die unglaublich einfühlsame Musik Strawinskys in seinem späten neoklassischen Stil hören wir die dritte Szene des ersten Aktes mit dem Entschluss der liebenden Anne Truelove von ihrer ländlichen Heimat aufzubrechen, um ihren verlorenen Tom im Sündenpfuhl der Grossstadt London zu suchen. Sie ist überzeugt, dass es nichts Stärkeres gibt als die Liebe. Ihre Liebe wird ihn finden, und er wird diese hören und spüren.
Ihr Vater will sie zurückhalten. Doch Annes Überzeugung ist felsenfest. Sie muss gehen, denn: «Love cannot falter, love cannot alter a loving heart – Liebe kann nicht wanken, Liebe kann ein liebendes Herz nicht umstimmen.» So spricht eine Frau namens Anne Truelove, die ihrem Namen gerecht werden will.
Aus einer Produktion in Aix en Provence (1992), die hier Strawinsky-affin von einer Ballerina umtanzt wird, hören wir die glockenhelle Stimme der amerikanischen Sopranistin Dawn Upshaw als diese Anne, die über die Beständigkeit echter Liebe für sich und für die Mitwelt keine Zweifel aufkommen lässt, allen Wüstlingen zum Trotz.