Der Autor, Philipp Stamm, ist Spross einer im Schaffhauser Dorf Schleitheim alteingesessenen Buchdruckerfamilie. Nach einer Lehre als Schriftsetzer besuchte er die Gewerbeschule in Zürich, bildete sich weiter an der Schule für Gestaltung, absolvierte ein Studium für Visuelle Kommunikation. Seit 2000 unterrichtet er Schriftgestaltung, Typografie und Corporate Design an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Zusammen mit seiner Kollegin Heidrun Osterer gab er 2008 das Monumentalwerk über den grossen Schweizer Schriftengestalter Adrian Frutiger heraus (der u. a. die Schrift für die Autobahnschilder entwickelte). Jetzt legt er ein 360-seitiges Werk über „Schrifttypen – Verstehen Kombinieren“ vor, das dem Reiz nachspürt, der in jeder Letter wie auch in der Mischung von Schriften steckt.
Punzen, Pixel, seitliches Fleisch
Stamms Opus ist ein Handbuch, und zwar eines für Fachleute. Der lesende Laie, der diesen Kosmos betritt, fühlt sich in einer fremden Welt. Allerdings lässt ihn diese Fremdheit so schnell nicht wieder los, was vielleicht an den teils rätselhaft klingenden Begriffen liegt, die in der Typografie gebräuchlich sind. Plötzlich will man wissen, was es mit der „Dickte“ und ihrem „seitlichen Fleisch“ auf sich hat, welche Rolle das Kerning, das Geviert, die Schnitte und Serifen, die Punzen, Pixel und Laufweiten spielen. Und man verweilt auch deshalb gerne zwischen den Buchdeckeln, weil die klare Gestaltung des Inhalts und die zahlreichen Schriftbeispiele eine Augenweide sind.
Lebendig macht das Buch auch, dass Stamm seinen Blick von den winzigsten Details der einzelnen Typen immer wieder weitet auf die Zeitläufte, in denen sich die Schriften spiegeln. Denn es waren dauernd politische Umstände, ökonomische Bedürfnisse, Moden oder der banale Zeitmangel, die im Laufe der Jahrtausende zu neuen Schriften führten. Wenn ursprünglich Texte nur in Grossbuchstaben geschrieben wurden, so zeichnete sich allmählich die Notwendigkeit ab, schneller schreibbare Schriften zu entwickeln, so genannte Kurrentschriften (lat. currere = eilen). Adrian Frutiger lieferte dazu, wie Stamm schreibt, die Theorie der Gestenreduktion, die er anhand des Majuskel-E veranschaulichte: Ein Schreiber muss viermal ansetzen, um ein E zu schreiben, aber nur einmal beim Minuskel-e.
Typografischer Dadaismus
Während der Gotik, die sich an der Vertikalen orientierte, tendierten auch Schriftengestalter und Buchdrucker „in die Höhe“ (etwa mit 2-spaltigen Satzspiegeln), wogegen in der nachfolgenden Renaissance die Typografen wieder auf ein ruhigeres Schriftbild mit längeren horizontalen Zeilen zurückgriffen. Im Spätbarock und vor allem im Rokoko war wieder mehr Lebendigkeit angesagt. Die Ornamentik hielt Einzug, das Auge sollte mit Opulenz und Verspieltheit erfreut werden, die Schriftengiesser gossen nun dekorative Typen. Mit dem aufkommenden Klassizismus hielt wieder schlichte Strenge Einzug, ausgedrückt durch eine noch heute verwendete Schrifttype, die den Namen ihres Erfinders trägt: Giambattista Bodoni (1740–1813).
Gegen Ende des 19. Jahrhundert kam es erneut zu Umbrüchen. Die fortschreitende Industrialisierung führte zu mehr Konsum, die Konsumindustrie zu neuen Berufen wie Plakatmaler, Schriftlitografen, Grafiker. Kunstgewerbeschulen wurden gegründet, und in das alte Metier des Gestaltens von Schriften und Büchern mischten sich zunehmend auch Architekten, Kunstmaler und Schriftsteller. Einer von ihnen, der Italiener Filippo Tommaso Marinetti, forderte nicht weniger als eine „typografische Revolution“, die mit der Harmonie (oder auch Langeweile) auf den Buchseiten aufräumen sollte: „Mit dieser […] Revolution und dieser bunten Vielfalt an Charakteren möchte ich die Ausdruckskraft der Wörter verdoppeln.“
Die Dadaisten nahmen das ziemlich wörtlich. Als das lautmalerische Gedichte „Karawane“, das Hugo Ball 1916 im Cabaret Voltaire in Zürich vortrug, 1920 in gedruckter Form erschien, waren die 17 Zeilen in unterschiedlichen Typen wiedergegeben – ein höchst unruhiges Bild, das den Effekt der irrlichternden Laute („jolifanto bambla ô falli bambla …“) noch verstärkte.
Fraktura-Tattoos der Fussballprofis
Spannend in der Buchstaben-Geschichte ist das jahrhundertelange Neben- und Gegeneinander zweier Grundtypen, der Antiqua und der Fraktur. Erstere orientierte sich an den geometrischen Grundformen Quadrat, Kreis und Dreieck, die den Schriften der Griechen und Römer zugrunde lagen (daher der Hinweis auf die Antike); die Fraktur wurde im deutschen Sprachraum verwendet und zeichnet sich dadurch aus, dass die Bogenformen nicht mehr rund, sondern gebrochen bzw. geknickt sind.
Die Frakturschrift, die nicht mehr so ganz in die Moderne passte, erlebte mit der Machtergreifung der Nazis nochmals einen Boom, schliesslich galt sie als typisch deutsche Schrift. Merkwürdigerweise waren es dann aber die Nazis selber, die 1941, auf dem Höhepunkt ihrer Macht, die Fraktur in den Orkus schickten und der Antiqua den Vorzug gaben – zur grossen Verwunderung des deutschen Publikums. Der Grund lag offenbar darin, dass die Reichsführung annahm, Deutsch werde nun Weltsprache, und die Schriftform dieser Sprache müssten auch Nichtdeutsche gut lesen können – was für die verschnörkelte Fraktura kaum zutraf.
Ganz verschwunden ist die Fraktur freilich nicht. Renommierte Blätter wie die New York Times, die Washington Post, Le Monde oder in der Schweiz etwa die NZZ und der Tages-Anzeiger pflegen in ihren Zeitungsköpfen die Fraktur-Tradition weiter; man trifft sie auch an bei Wortmarken (zum Beispiel für Alkoholika) oder auf „angeschriebenen“ Häusern, wobei die meisten Gaststätten insofern ein bisschen mogeln, als sie auf das lange Fraktur-S, das wie ein f aussieht, verzichten und um der optischen Gastfreundlichkeit willen das runde S verwenden.
Die „deutsche“ Fraktur wird gerne auch noch verwendet in Kreisen, die auf Provokation aus sind – von Metal-Bands etwa oder Rechtsextremen; sichtbar wird sie ausserdem auf tätowierten Gliedmassen von Fussballern.
Das grossartige Erlebnis
Mit viel Feingefühl geht Stamm immer wieder auf die „Anmutung“ der Schriften ein, womit gewissermassen deren Aura gemeint ist; denn allein das Betrachten einer Schrift – ohne Kenntnis des Wortinhalts – rufe Assoziationen hervor. Oder Irritationen, wenn Form und Inhalt in Widerspruch stehen zueinander. Mit einer fetten Egyptienne für feine Strümpfe zu werben ist demnach ebenso wenig ratsam wie mit einer verspielten Skript einen Gerüstbau oder mit der geometrischen Grotesk ein Wildnis-Event anzupreisen.
Aber eben, da ist man wieder mittendrin in dem unendlich variantenreichen Zusammenspiel von Ab- und Aufstrichen, Bögen, Lichtwerten, Verjüngungen … und man glaubt dem Autor aufs Wort, wenn er schreibt, es brauche ein gehöriges Mass an Durchhaltevermögen, das Gespür für gute Typografie und sinnvolle Mischungen zu entwickeln. Immerhin wartet jenen, denen das gelingt, ein grossartiges Erlebnis – dann nämlich, so Stamm, „wenn die Typografie zu klingen beginnt“.
Philipp Stamm: Schrifttypen – Verstehen Kombinieren, Schriftmischung als Reiz in der Typografie. Basel: Birkhäuser, 2020. 360 Seiten, ca. 70 Franken.