In Olivenza gehen auch Unbekannte oft nicht einfach aneinander vorbei. Wer mit neugierigem Blick durch die Stadt schlendert, bekommt so manches ¡hola! oder ¡buenos días! zu hören, und da ergibt sich schnell ein Gespräch. Eine junge Frau erzählt beim Plausch im Schatten der wuchtigen Stadtmauer vom Onkel und von der Tante, die sich neben ihren spanischen Ausweisdokumenten portugiesische Pässe besorgt haben. Einen portugiesischen Pass hat der rund 40-jährige Besitzer eines Restaurants am Ort schon beantragt. Mit den Pässen geht es schnell, meint er, nur rund vier Monate dauere das Verfahren. Meistens würden ja mehrere Leute am Ort gemeinsam ihre Anträge einreichen. Über diese werde en bloc entschieden.
Wo Spanier auch Portugiesisch sprechen
Er habe seine portugiesische Abstammung nachgewiesen, sagt der Wirt, und keinen Sprachtest machen müssen. Anders als so viele spanische Landsleute versteht er Portugiesisch. Wer aus Portugal kommt, braucht hier also kein „portunhol“, jenes iberische Kauderwelsch, mit denen Portugiesen ihren weniger sprachgewandten Nachbarn entgegenkommen. Aus den Zapfhähnen an der Theke kommt zwar spanisches Bier. Seinem von der Hitze erschöpften Gast, der es bei Wasser belassen will, serviert der Wirt aber eine Flasche des leicht sprudelnden portugiesischen „Pedras Salgadas“.
Wir sind in Olivenza, eigentlich eine spanische Kleinstadt, mit rund 12’000 Einwohnern. Ins spanische Bild passen auch die vier Flaggen, die an der schmiedeeisernen Veranda des weiss gekalkten Rathauses flattern. Es sind die Flaggen der Gemeinde und die der spanischen Region Extremadura, zu der die weisse Kleinstadt gehört, dazu die von Spanien und der EU.
In diesem Ort, den wenige Autominuten von der Grenze zu Portugal trennen, spricht man überwiegend Spanisch. Ansonsten geht es aber nicht nur spanisch zu.
Spanische Flaggen, portugiesisches Wappen
Wer sich ohne Geschichtskenntnis hierher verirrt, kommt leicht ins Grübeln. An der Fassade des Rathauses prangt, eher diskret, ein sorgfältig restauriertes portugiesisches Wappen, daneben die Sphärenkugel des portugiesischen Königs Dom Manuel. In seine Regierungszeit (1495–1521) fielen Portugals ganz grosse Entdeckungen, allen voran die des Seeweges nach Indien und die von Brasilien.
Weniger diskret ist das monumentale Portal des Rathauses, ein Beispiel des manuelinischen Stils, der nach König Manuel benannt ist und der mit seinem steinernen Dekor aus Tauen und Tang just an Meer und Seefahrt erinnert.
Sogar beim Blick auf die Trottoirs mit ihren schwarz-weissen Mosaiken können sich Portugiesen heimisch fühlen.
Hier und da finden sich sogar Einheimische, die Portugiesisch sprechen oder wenigstens portugiesische Vokabeln in ihr Spanisch einfliessen lassen.
In der am Sonntagnachmittag praktisch menschenleeren Fussgängerzone trotzen die Besitzer eines chinesischen Basars der drückenden Hitze und halten ihren Laden geöffnet. Sie führen als Souvenirs unter anderem Kühlschrank-Magnete. Zur Auswahl stehen Olivenza und die nahe Provinzhauptstadt Badajoz (zur Region Extremadura gehören zwei Provinzen, Badajoz und Cáceres), dazu Lissabon und Porto, Papst Franziskus und die Jungfrau Maria. Am Ort gibt es gar eine „Cafetería Lisboa“. Irgendwie merkwürdig in einem Land, dem man lange eher Gleichgültigkeit gegenüber dem kleinen Nachbarn nachsagte.
Spätzünder CIA
Jenes kleinere Land, also Portugal, ist als Staat dabei viel älter als Spanien und geht gar als Antiquität durch. Seine heutigen Landgrenzen sind die ältesten in Europa. Seit dem 13. Jahrhundert, als die Mauren die Südregion Algarve an König Afonso III. verloren, haben sie nur minimale Änderungen erfahren. Eine dieser Änderungen betraf just das ehemals portugiesische Städtchen Olivenza, das spanische Truppen 1801 einnahmen, für die Portugiesen aber immer noch Olivença heisst, mit ça statt za.
In die portugiesische Ära fiel seine grosse Zeit. Aus dem 16. Jahrhundert stammt die prachtvolle manuelinische Kirche Iglesia de la Magdalena. Von 1512 bis 1570 residierten die Bischöfe von Ceuta – eine heute spanische Stadt an der Küste von Marokko, die Portugal aber 1415 eingenommen und damit seine Expansion in Übersee begonnen hatte – just in Olivenza.
Mit dem Verlust von Olivenza hat sich Portugal offiziell nie abgefunden. Auf manchen Karten ist die Grenze hier nur gepunktet. Einen wirklichen Störfaktor im bilateralen Verhältnis bildet die Stadt aber nicht. Auch Terroristen hat es hier nie gegeben. Verständlich also, dass der US-Geheimdienst CIA erst gut 200 Jahre nach der Einnahme durch Spanien die Olivenza-Frage entdeckte. Für Spott und Kopfschütteln sorgte im Jahr 2003 der CIA mit seinem „World Factbook“, in dem erstmals eine Differenz um Olivenza erwähnt wurde. Noch im Vorjahr war der „Intelligenz“ der USA am Ort nichts von Belang aufgefallen. Oder vielleicht hatten sich die Geheimagenten gar nicht erst in den verschlafenen Ort verirrt. Präsident Bush könnte ruhig zu einem Café vorbeikommen, witzelte man damals, und sogar seinen Leibwächtern einen freien Tag gönnen. Im „Factbook“ kommt die Stadt bis heute als umstrittenes Territorium zu Ehren.
Alte Brücke, neue Brücke
Bis vor rund 20 Jahren führte der kürzeste Weg von Lissabon nach Olivenza oder Olivença noch zwangsläufig über Badajoz. Als viele Menschen sich noch keine eigenen Autos leisten konnten, gab es organisierte Tagesausflüge von Lissabon zum Billigeinkauf nach Badajoz, oft mit Abstechern ins rund 25 Kilometer entfernte Olivenza, wo die Portugiesen in Augenschein nehmen konnten, was die Spanier aus ihrer Sicht zu Unrecht besetzt hielten.
Seit dem Jahr 2000 gibt es von der eindrucksvoll befestigten portugiesischen Grenzstadt Elvas eine Abkürzung. Eine moderne Autobrücke führt heute über den Rio Guadiana, der hier die Grenze bildet. Wer ihn überquert, erblickt gleich links die Ruinen der früheren, viel älteren Ponte da Ajuda aus dem frühen 16. Jahrhundert. Hätten spanische Truppen diese Brücke nicht während des spanischen Erbfolgekriegs der Jahre 1701–14 gesprengt, wäre auch danach alles vielleicht ganz anders gekommen.
Geschiche mit unterschiedlichen Nuancen
Als spanische Truppen 1801, also rund hundert Jahre später, im Zuge des kurzen Krieges der Orangen mehrere grenznahe Städte in Portugal besetzten, konnten portugiesische Truppen den Guadiana nicht so leicht überqueren. Olivenza war nur auf Umwegen zu erreichen. Aus fast allen besetzten Städten zogen die Spanier bald wieder ab – aus allen ausser Olivenza, womit Portugal diesen Vorposten am linken Guadiana-Ufer verlor.
Über das, was danach geschah, stimmen die in beiden Ländern gängigen Versionen der Geschichte nicht ganz überein. Im Vertrag von Badajoz von 1801, so viel ist unstrittig, trat Portugal die Stadt zwar an die Spanier ab. Einige Jahre später argumentierte Portugal aber, dass dieses Zugeständnis unter Druck erfolgt sei, und beim Wiener Kongress sei die Stadt 1815 als portugiesisch anerkannt worden. Auf der Website der Gemeinde von Olivenza ist indes nur von „besten Anstrengungen“ für die Rückgabe die Rede. Und diese seien gescheitert, unter anderem weil Portugal in Südamerika einen Teil des heutigen Uruguay besetzt gehalten habe.
Olivenza sei ganz klar eine spanische Stadt, so ist auf der Website der Kommune zu lesen, aber eine Stadt, die ihre portugiesische Tradition pflege. Sie sei ein Symbol des Zusammenlebens und eines Dialogs der Kulturen. Alle Erinnerungen an die portugiesische Vergangenheit seien restauriert worden, heisst es dort. Und gerade in den letzten Jahren scheint man aus dieser Idee des Zusammenlebens mehr denn je ein Markenzeichen gemacht zu haben. Vielleicht, denkt sich der Besucher, ist dies nicht zuletzt auch eine Geste der Aussöhnung gegenüber Leuten aus dem Nachbarland, die keinerlei Überheblichkeit spüren sollen.
Viele neue Portugiesen
An die portugiesische Zeit erinnern nicht nur Baudenkmäler. Relativ neu sind die blau-weissen Azulejos (Kacheln) mit den Namen der Strassen und Plätze, oben stets die jetzigen, spanischen Namen, darunter die aus portugiesischer Zeit. Die Strasse zu Ehren der „Reyes Católicos“, also Isabel und Fernando, in deren Diensten einst Kolumbus nach Amerika segelte, war früher nach deren portugiesischem Zeitgenossen König Manuel benannt. Es bleibt die Frage, wie viele Menschen vor 200 Jahren lesen konnten und sich an Strassennamen orientierten. Dass das Verhältnis zwischen den Königshäusern beider Länder keinesfalls konfliktfrei war, steht auf einem anderen Blatt.
Die Zeit der Rivalitäten zwischen den Nachbarländern ist offiziell passé. Olivenza und die portugiesische Grenzstadt Elvas pflegen seit 1990 eine Städtepartnerschaft. Nicht zuletzt dank offener Grenze und neuen Verkehrswegen kommen sich die Menschen näher. Immer mehr „Oliventinos“ besinnen sich da auf ihre eigenen portugiesischen Wurzeln – und beantragen portugiesische Pässe. Hier kommen Feinheiten ins Spiel.
Wer bis 1981 in Olivenza zur Welt kam, galt in Portugal als Portugiesin oder Portugiese, infolge des damals angewandten „ius soli“, teilt Portugals Justizministerium auf Anfrage mit. Wer danach als Kind als Kind eines portugiesischen Elternteils geboren wurde, kann die Staatsangehörigkeit aufgrund der Abstammung beantragen. Im ersten Halbjahr 2021 erwarben 24 Oliventinos die portugiesische Staatsangehörigkeit, ohne die spanische abgeben zu müssen; auf 657 summiert sich die Zahl der Einbürgerungen seit 2014.
Die Antworten auf die Frage nach dem Warum sind teils diffus. Wahrscheinlich ist eine starke emotionale Komponente im Spiel. „In Spanien wird es politisch ja kompliziert“, meint eine Frau, und ein Mann sieht es als Vorteil, dass er als Portugiese auch bei Wahlen in Portugal seine Stimme abgeben kann. Ein schon etwas betagter Mann mit einem eingestickten „Amar Olivenza“ auf der roten Gesichtsmaske erinnert an die vielen Toten in der Zeit des Bürgerkrieges von 1936–39 und die Brutalität des Franco-Regimes. Auch Portugal habe eine Diktatur gehabt, aber sie sei etwas weniger brutal gewesen. Nach den portugiesischen Salären sehnen sich die Spanier derweil gewiss nicht. Rufe nach einem Wechsel zu Portugal kamen dem Besucher am Ort nicht zu Ohren.
Feuchte Vergnügen und eine neue spanische Invasion
Die Nähe zu Portugal hat der Kleinstadt in der ariden Extremadura sogar feuchte Vergnügen beschert. Vor knapp 20 Jahren staute Portugal, nach viel politischem Hickhack und langen Bauarbeiten, den aus Spanien kommenden Rio Guadiana auf einem Abschnitt, der durch portugiesisches Territorium führt, zum grössten künstlichen See in Westeuropa auf. Mit seiner Fläche von maximal fast 250 Quadratkilometern ist er etwas grösser als der Lago Maggiore. Sein Staudamm entstand rund 65 Kilometer Luftlinie südwestlich von Olivença, und auch der weitaus grösste Teil des Sees liegt in Portugal. Sein Rückstau reicht im Nordosten aber bis Spanien, ganz in die Nähe von Olivenza, wo man dieses Gebiet zum „thematischen Naturpark“ mit viel Wasser, viel Grün und Gelegenheit zur Beobachtung von Vögeln erklärt hat. Von der Hauptstrasse nach Portugal führt ein Holperweg am Seeufer entlang zu einer Anlegestelle für kleine Boote, von wo der Blick stets über das Wasser nach Portugal reicht.
Das Wasser aus dem Stausee kommt in Portugal auch der Landwirtschaft zugute. Und das schätzten auch Landwirte aus Spanien, die sich – zum Leid vieler Portugiesen – viel Land in Portugal gekauft haben. Sie widmen sich dort unter anderem dem intensiven Anbau von Oliven, und dazu gehört die Bewässerung, die beim traditionellen, extensiven Anbau nicht nötig ist. Das ruft Umweltschützer auf den Plan. Und diese Invasion aus dem Nachbarland ist für manche Leute in Portugal letztlich wohl ärgerlicher als die spanische Dominanz über Olivenza.