Zehn Prozent der Weltbevölkerung haben nicht genügend Nahrungsmittel. Das sind 811 Millionen Menschen. Allein im letzten Jahr stieg die Zahl um 161 Millionen. Dies berichtet jetzt die «UN Global Humanitarian Overview».
Die Ursachen sind vielfältig: Eine wichtige Rolle spielen bewaffnete Konflikte, extreme Wetterbedingungen, Pflanzenkrankheiten, die Corona-Pandemie, logistische Schwierigkeiten, bedürftige Menschen zu erreichen – und Heuschreckenplagen.
Wie wird Hunger und Unterernährung gemessen? Die Uno ermittelt die Daten so: Die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in einzelnen Ländern stellt sie dem Nahrungsmittelverbrauch und Energiebedarf gegenüber. So entsteht ein Indikator für die «Prävalenz der Unterernährung» («Prevalence of undernourishment” (PoU). Erstellt werden diese Kennzahlen von der FAO, der Uno-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft.
Zwischen 720 und 811 Millionen Hungernde
Als «Hungernde» werden also Menschen bezeichnet, die «keinen Zugang zu genügend sicheren und nahrhaften Lebensmitteln für ein normales Wachstum und eine normale Entwicklung haben». Entweder fehlen diese Nahrungsmittel oder die betroffenen Menschen haben kein Geld, um sie zu beschaffen. Jahrelang war die Zahl der Hungernden zurückgegangen. Jetzt steigt sie wieder stark an.
Aufgrund der neuesten Ermittlungen schätzt die Uno, dass es zurzeit weltweit zwischen 720 bis 811 Millionen hungernde Menschen gibt.
Am stärksten vom Hunger betroffen sind zur Zeit fast ganz Afghanistan, ganz Jemen, ganz Syrien, der Südsudan, der Kongo (RDC), Somalia und neuerdings Äthiopien. Doch auch in vielen anderen afrikanischen Ländern sind zumindest einzelne Landstriche vom Hunger betroffen.
Dramatische Situation in Afghanistan
«In Afghanistan schiesst die Not in die Höhe», berichtet die Uno. 93 Prozent der 40 Millionen Einwohner haben nicht genug zu essen. Nach Ermittlungen des Uno-Welternährungsprogramms (World Food Programme, WFP) leiden 23 Millionen Afghanen und Afghaninnen an «akutem Hunger». Fast 9 Millionen sind von einer Hungersnot bedroht.
Zwei von fünf Kindern (38 Prozent) unter fünf Jahren sind «chronisch unterernährt». Das heisst, sie sind über einen längeren Zeitraum hinweg unzureichend ernährt, was zu Wachstumsstörungen führt. Eine Million Kinder unter fünf Jahren laufen Gefahr, an Unterernährung zu sterben.
Vor dem Totalzusammenbruch der Wirtschaft
Die Machtübernahme der Taliban am vergangenen 15. August hat die Situation noch verschlimmert. Die Wirtschaft, die früher durch internationale Spenden mehr oder weniger am Leben erhalten wurde, steht kurz vor dem Zusammenbruch. Laut Uno braucht es dringend 4,4 Milliarden Dollar an Nahrungsmittelhilfe.
Nach der Machtübernahme der Taliban hatten die USA 9,1 Mrd. Dollar der afghanischen Staatsreserven, die bei der Federal Reserve Bank of New York liegen, eingefroren. Das trug wesentlich dazu bei, dass die humanitäre Krise im Land beschleunigt wurde. Die afghanische Bevölkerung kann sich immer weniger Grundgüter leisten, die Währung des Landes, der Afghani, droht gegenüber dem Dollar um mehr als 30 Prozent abgewertet zu werden. Das bedeutet, dass importierte Ware, vor allem Nahrungsmittel – und auf solche ist Afghanistan dringend angewiesen – um bis zu 30 Prozent teurer geworden sind. Wegen des Dollar-Mangels können Importeure nicht mehr importieren. Lebensmittel werden immer knapper.
Die USA tragen eine Mitschuld am heutigen Elend in Afghanistan.
Mit den eingefrorenen Vermögenswerten versucht Washington, Druck auf die Taliban auszuüben. Leidtragende sind in erster Linie nicht die Radikalislamisten, sondern Millionen Afghanen und Afghaninnen. Die USA tragen zumindest eine Mitschuld am heutigen Elend der afghanischen Bevölkerung. Der internationale Druck auf Washington, zumindest erste Tranchen der eingefrorenen Staatsreserven freizugeben, steigt. Doch niemand erwartet, dass dann sofort alles gut wird. Weite Teile des Landes und der Infrastruktur sind zerstört.
Jemen: Die Hälfte der Bevölkerung hungert
Im Kriegsland Jemen, einem der ärmsten Länder der Welt, haben über 14 Millionen Menschen nicht genug zu essen. Das entspricht der Hälfte der Bevölkerung. 47 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind laut WFP «chronisch unterernährt».
Das Land befindet sich seit sieben Jahren in einem Krieg zwischen den Huthis und einer von Saudi-Arabien angeführten Koalition. Vier Millionen Menschen sind auf der Flucht. Tausende sind ums Leben gekommen.
Syrien: Jedes dritte Kind ist unterernährt
Stark gestiegen ist die Hunger-Quote in Syrien. Nach zehn Jahren Krieg herrscht in weiten Teilen des Landes Verzweiflung. Fast 13 der 20 Millionen Syrer und Syrerinnen wissen laut Uno nicht, «wo sie das nächste Essen bekommen sollen». Damit stieg die Zahl innerhalb des letzten Jahres um 4,5 Millionen – der höchste je registrierte Zuwachs. Fast jedes dritte Kind unter fünf Jahren ist chronisch unterernährt. Die Lebenskosten sind wegen des Krieges so stark gestiegen, dass sich viele Menschen nicht mehr ernähren können.
Zusätzlich betroffen ist vor allem der Norden und der Nordwesten des Landes durch die in diesem Winter extrem tiefen Temperaturen. Millionen Flüchtlinge und Vertriebene befinden sich in einer desolaten Lage.
Südsudan: Dürre, Überschwemmungen
Im Südsudan, der sich vor elf Jahren vom Sudan abgespaltet hat, herrscht die grösste Hungersnot seit der Unabhängigkeit des Landes. Betroffen sind gemäss Uno-Angaben 6,6 der 11 Millionen Menschen. Eines von drei Kindern unter fünf Jahren ist chronisch unterernährt. Einerseits herrscht Dürre, anderseits wurde der Südsudan von den schlimmsten Überschwemmungen seit 60 Jahren heimgesucht.
Somalia: Kein Regen, Terror, Corona
Stark betroffen ist Somalia. Eine monatelange Trockenzeit hat eine anhaltende Dürre verursacht. Die somalisch-kenianische NGO «Wasda» erklärt, dass die als «Gu» bezeichneten saisonalen Regenfälle, die normalerweise von April bis Juni dauern, völlig ausgeblieben sind – ebenso die «Deyr»-Regenfälle, die von Oktober bis Dezember stattfinden sollten.
Das Epizentrum der gegenwärtigen Dürre liegt im «Mandera-Dreieck», wo Äthiopien, Somalia und Kenia aufeinandertreffen. Doch auch die wichtigsten Getreideanbaugebiete im Südwesten des Landes sind betroffen. Zudem verursachte eine Heuschreckenplage schwere Schäden. Gemäss der Uno leiden 90 Prozent der Bevölkerung (11,4 von 12,3 Millionen) an Hunger.
Tote am Strassenrand
Die irische Hilfsagentur «Trócaire», die im somalischen Jubaland im Einsatz ist, spricht von Frauen und Kindern, die auf der Suche nach Nahrung in die Städte flüchten wollten – und auf dem Weg dorthin starben und dann am Strassenrand liegen.
Stark betroffen ist Somalia von der Corona-Pandemie. Auch die Sicherheitslage hat sich wieder verschlechtert. Nach wie vor wüten die islamistischen al-Shabab-Milizen. Da sie als Terrorgruppe eingestuft sind, werden internationale Hilfsorganisationen abgeschreckt.
Ein neuer Hunger-Hotspot ist Äthiopien, wo sich im Norden des Landes die Lage dramatisch zuspitzt. Längst hat sich der Tigray-Konflikt auf die Amhara- und Afar-Region ausgebreitet. Dort werden Tausende Menschen vertrieben. Anderswo treiben Dürre und Heuschreckenplagen die Menschen an den Rand der Existenz.
Viel erreicht, doch nicht genug
Es ist nicht so, dass nichts getan und nicht geholfen wird. Hunderte Hilfswerke sind rund um die Welt im Einsatz. Helferinnen und Helfer leisten teils fast übermenschliche Arbeit. Milliarden Hilfsgelder werden investiert. 107 Millionen notleidende Menschen sind im vergangenen Jahr mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderen Hilfsgütern versorgt worden, schreibt jetzt Martin Griffiths, Uno-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten, im «Global Humanitarian Overview 2022». Im Südsudan zum Beispiel, konnte eine halbe Million Menschen vor dem sicheren Hungertod gerettet werden. In Jemen wurden mehr als zehn Millionen ambulante medizinische Konsultationen durchgeführt und 344’000 Geburten unterstützt.
Doch eben: Trotz riesigem Aufwand, es ist nicht genug. Frühes Handeln sei dringend nötig, sagt Griffiths, denn wenn man von Hungerkrise spreche, sei es meist schon zu spät.
Zuerst sterben die Kranken, dann Kinder und alte Leute
In den letzten Jahren sei der Klimawandel neben Konflikten eine der Hauptursachen für Hungersnöte gewesen, erklärt Griffiths. Im Jahr 2020 trieben extreme Klima- und Wetterereignisse fast 16 Millionen Menschen in 15 Ländern an den Rand der Hungersnot. Und Hungerkrisen schüren Gewalt und Ausbeutung von Frauen und Kindern.
Die Situation ist in Dutzenden Ländern alarmierend: Zuerst sterben in den Hungergebieten die Kranken, dann Kinder und alte Leute, anschliessend Rinder, Schafe und Ziegen. Kamele hingegen sind widerstandsfähige Tiere. Doch jetzt, so berichtet die Uno, sterben in vielen Teilen Somalias auch Kamele.
Quellen: UN Global Humanitarian Overview, FAO, World Food Programme, UNHCR, Unicef, AP