Nach 1900 wurde die Welt hell und schnell. Elektrizität und Benzin, Parfum des Fortschritts, veränderten das Leben der Menschen – die zweite industrielle Revolution. Mit den Maschinen und Motoren stieg der Lärm. Das Rattern wurde inzwischen zwar leiser. Doch der Lärm blieb. Und er drang in jüngster Zeit bis in die Klassenzimmer vor. Allerdings aus anderer Quelle. Der Schweizer Lehrerverband LCH will die Lehrer davor schützen, wie er am internationalen Tag gegen den Lärm von Ende April bekanntgab. [1]
Gegen Lärm helfen heute Hörschutzgeräte
Natürlich sind Schulhäuser keine Mausoleen; verspieltes Treiben und lautes Kinderlachen gehören konstitutiv zur Schule. Ruhe kann kein Dauerzustand sein – ebenso wenig wie eine permanente Geräuschkulisse.
Und doch ist es eine leidige Tatsache: Die Unruhe nimmt zu, der Lärmpegel steigt, die Schallemissionen in den Klassenzimmern rufen nach Hörschutzgeräten. Der Pamir aus dem Schützenstand und dem militärischen Gefechtsfeld erobert die Schulzimmer. Doch Pamire können nicht die Lösung sein, meint Jürgen Oelkers, emeritierter Hochschullehrer für Allgemeine Pädagogik der Universität Zürich. Und er fügt bei: „Es wäre bedenklich, wenn es in den Klassenzimmern tatsächlich so laut wäre, dass man Gehörschutz bräuchte.“ [2]
Paradigmenwechsel der Verantwortung
Und wie reagiert der Schweizer Lehrerverband LCH? Er verlangt „Rückzugsräume (für Lehrpersonen!) in den Pausen“. [3] Dazu fokussiert sich der LCH auf stickige Luft und schlechtes Licht in den Schulzimmern. [4] Das alles ist wichtig. Zweifelsohne. Beat Zemp, oberster Schweizer Lehrer, will deshalb Räume und Akustik vermessen. Doch das aktuelle Kernproblem, Lärm und Unruhe, liegt ausserhalb dieser engen Sichtweise. Der LCH justiert am falschen Ort.
Nicht messen, sondern hineinzoomen ins Eigentliche und Wesentliche der Schule, in den Unterricht, täte not. Und da erkennt man schnell, was sich verändert hat: die Verantwortung. Sie ging von den Lehrpersonen an die Schülerinnen und Schüler über. So verlangt es das neue Lehr- und Lernparadigma: „Konstruktivismus ist gut, direkte Instruktion schlecht.“ [5] Die Kinder zeichnen an vielen Schulen für ihr Lernen selber verantwortlich; sie lernen selbständig und eigengesteuert. Pädagogen mutieren zu Coachs und begleiten Lernprozesse. In dieser technokratischen und entpersonalisierten Funktion gestalten sie Lernlandschaften und moderieren das selbstorganisierte Arbeiten ihrer Schülerinnen und Schüler. Das ist der Trend, wie eine Abteilungsleiterin der Pädagogischen Hochschule Zürich vor einiger Zeit bekräftigte. Lernen ohne Lehrer – „LoL“ – ist angesagt. Pädagogen bringen sich damit selber zum Verschwinden.
Lärm stört Konzentration und Lerneffekt
Ein beliebiges Beispiel illustriert die Delegation der Lernverantwortung. Besuchstag in einer zweiten Primarklasse: Die einen Kinder üben die 8er-Reihe; andere beschäftigen sich, laut redend, mit einem anderen Gegenstand. Die Schüler der 8er-Reihe sitzen oder liegen auf dem Boden; einer hat einen Zettel vor sich, dann wird gewürfelt. Zahl 7 beispielsweise heisst: 7 mal 8. Jemand ruf das Resultat. Die Schreiberin notiert am Boden die ganze Rechnung, während die andern warten und zuschauen. Dann wird wieder gewürfelt, und so geht es weiter.
Der stille Beobachter denkt sich: Warum nicht im Halbkreis aufmerksam und zusammen mit der Lehrerin üben? Traditionell wäre die Effizienz wohl bedeutend grösser. Dazu sässen die Jugendlichen. Schwächere Kinder könnten sich nicht „drücken“ und hinter andern Mitschülern verstecken. Die Lehrerin würde auch sie animieren und sorgsam in den gemeinsamen Lernprozess integrieren. Und – ganz wichtig: Es herrschte konzentrierte Ruhe. Die Lärmquelle wäre eliminiert. Elternklagen verstummten.
Das pädagogische Vokabular verändert sich
Die Sprache schafft Wirklichkeit. Die pädagogische Semantik verengt sich auf einige wenige Begriffe: vom Lehren zum entdeckenden Lernen; von der Instruktion zum „selbstregulierten“ Arbeiten, zur eigentätigen Konstruktion. Welch didaktische Armut im Vergleich zu Hans Aeblis vielfältigen Grundformen des Lehrens. [6] Heute dominiert das selbstorganisierte Lernen und diktiert die Methode; sie wird zum Imperativ von oben: Lernende sollen selber alles aktiv hervorbringen. Der Lehrer wird zum Begleiter, so lautet vielerorts die offizielle Doktrin.
„Ja nicht zu viel Interaktion der Lehrperson!“, berichten Pädagogen. So suggeriere man ihnen vonseiten der Schulleitung. Und angehende Junglehrer sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien in der Lektion „zu präsent gewesen“ und hätten zu viel instruiert.
Präsent sein und auch im Rücken Augen und Ohren haben
Dabei verhalten sie sich genauso, wie es empirische Studien postulieren und die Neurobiologie nahelegt: vital präsent sein, verstehende Zuwendung zeigen, ermutigen: die Pädagogin als menschliches Gegenüber, der Lehrer als erste Stimmgabel, der Resonanzen erzeugt und im jungen Menschen etwas zum Klingen bringt.
„Withitness“ nennt das der Klassiker des Classroom Management, Jacob S. Kounin [7]: allgegenwärtig und dabei sein. Schülerinnen und Schüler bekommen so das Gefühl vermittelt, dass die Lehrperson all ihre Aktivitäten wahrnähme, dass sie sozusagen „Augen im Hinterkopf" habe und darum störende Vorfälle nicht übersehe oder gar toleriere. [8] Ein ganz wichtiges Element zur präventiven Elimination von Lärmquellen. Der momentan einflussreichste Bildungsforscher, der Neuseeländer John Hattie, konnte zeigen, dass das Merkmal „Withitness" von allen Facetten des Klassenmanagements den stärksten lernförderlichen Effektwert hat. [9]
Lerncoach? Nein: Pädagoge! Dirigentin!
Der Schreibende hat viele (Primar-)Schulstunden analysiert und manche (Gymnasial-)Klassen einen ganzen Tag lang begleitet. Wer das erlebt, sieht sofort: Klassen können bei Lehrerwechsel innert Minuten ein ganz anderes Verhalten zeigen. Das hat nichts zu tun mit Raumgrösse oder Akustik, das hat zu tun mit der Lehrperson, mit ihrer Präsenz und ihrem Vermögen, Kinder zu führen und sie zu inspirieren. So, wie eine gute Dirigentin ihr Orchester gewinnen muss, den Ton angibt, das Tempo setzt und weiss, wohin sie mit dem Werk will. [10] Der Dirigent führt als Vorbild. Oder, um es mit David Zinman, dem ehemaligem Chef des Zürcher Tonhalle Orchesters, zu sagen: „Ich muss die Musik sein, die ich von meinem Orchester hören will.“ Ab einem gewissen Punkt weitet die Dirigentin ihren Musikern den Raum; sie können sich entfalten – in Analogie zur guten Lehrperson und ihren Kindern.
Allerdings wirkt das Wort „Führen“ in der pädagogischen Welt von heute wie ein Relikt aus überwundener Zeit. Und doch: Lehrerinnen und Lehrer sind Führungskräfte. Eben Pädagoginnen: „paid-agogein“, wie es im Griechischen heisst. Kinder hin(an)führen. Führen, nicht coachen. Klar im Anspruch und in den Zielen. In solchen Unterrichtsstunden war Lärm ein Fremdwort.
Abwechslung ohne Zerstreuung
Empirische Studien zeigen: Gute Lehrpersonen steuern den Unterricht und stellen das Lernen der Kinder ins Zentrum – im Wissen: Selbständig und frei werden sie nicht über selbstreguliertes Lernen oder Lernen ohne Lehrer (LoL). Der Weg zum Können und zur Autonomie führt gemäss John Hattie über eine schülerorientierte Lehrersteuerung. Dazu gehört, wie der Neurobiologe Joachim Bauer eindrücklich aufzeigt, neben der Empathie das Führen. Das sind die beiden Säulen eines vielgestaltigen, konzentrierten Unterrichts.
Das Verfahren der Pädagogik, so lässt Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ Charlotte von Stein sagen, sei „Abwechslung ohne Zerstreuung“ und – das müsste er heute wohl beifügen – ohne Lärm.
[1] Gemeinsam gegen den Lärm, in: https://www.lch.ch/news/aktuell/artikel/dokument/gemeinsam_gegen_laerm/ [Status: 05.05.2018]
[2] Der Pamir erobert die Schulzimmer, in: 20 Minuten, 21. April 2013.
[3] Yannick Nock: Gesundheit in Gefahr: Lehrer klagen über zu viel Lärm in Klassenzimmern, in: Schweiz am Wochenende, 22.04.2018.
[4] Schlechte Luft in Schulzimmern, in: https://www.svlw.ch/259-zu-dicke-luft-in-schulzimmern [Status: 05.05.2018]
[5] John Hattie (2013): Lernen sichtbar machen. Überarbeitete und erweiterte deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“, besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 242.
[6] Hans Aebli (2011): Zwölf Grundformen des Lehrens Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte didaktischer Kommunikation, der Lernzyklus. Stuttgart: Klett-Cotta. Aebli war Schüler von Jean Piaget und Hochschullehrer in Bern.
[7] Kounin Jacob S. (2006): Techniken der Klassenführung. Stuttgart: Klett. In diesem Bereich hatte weltweit kein anderer Autor einen solchen Einfluss wie Kounin.
[8] Andreas Helmke (2015): Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer, S. 178f.
[9] Hattie, a. a. O., S. 122. Der Effektwert beträgt d=1.42 Der „erwünschte Effekt“ liegt bei 0.4.
[10] Gem. John Hattie, in: Yannick Nock: So lernen Kinder am besten. Schweiz am Wochenende, 28.04.2018, S. W2.