Von René Zeyer
Pedro, natürlich ist das nicht sein richtiger Name, arbeitete in einer staatlichen Bäckerei in Havanna. Die ist dafür zuständig, dass jeder Kubaner weiterhin auf seiner Rationierungskarte täglich ein Brötchen bekommt. Jeden Morgen sehr früh aufstehen, darauf hoffen, dass es nicht länger als eine Stunde dauert, bis der Bus kommt, nach getaner Arbeit das Gleiche. Wenn es am Abend in seiner Wohnung Wasser, Strom und Essen hat, dazu der Fernseher funktioniert, war es ein guter Tag.
Das liebe Überleben
Offiziell verdiente Pedro als Handlanger 250 Pesos im Monat, das sind umgerechnet 10 Franken. Denn er ist kein Bäcker, sondern ausgebildeter Mechaniker. Aber man muss nehmen, was man kriegt. Trotz fast gratis Wohnen, weiterhin kostenloser Gesundheitsversorgung und einigen weiteren Restbeständen von Sozialismus reichte das natürlich vorne und hinten nicht zum Überleben.
Also machte Pedro das, was alle Kubaner machen. Er klaute Mehl und von allem anderen, das zur Herstellung eines Brötchen nötig ist. Nun geht das natürlich nicht spurlos am Endprodukt vorbei, was bei allem Verständnis der Empfänger, die ja selbst auch alles vom Staat klauen, was nicht mit schweren Eisenketten gesichert ist, zu zunehmendem Protest führte.
Aber gestählt durch die Erfahrungen von 55 Jahren real existierenden Surrealismus auf der letzten Insel des Sozialismus wusste Pedro: Das geht normalerweise so etwa zwei Jahre gut, dann schlägt der Blitz ein. Der Direktor der Bäckerei wird verhaftet, die Belegschaft sanktioniert und entlassen, und wenn man richtig Pech hat, erscheint sogar ein Artikel in der Parteizeitung «Granma», dass von den staatlichen Kontrollorganen wieder ein erschütternder Fall von mangelndem revolutionärem Bewusstsein aufgedeckt worden sei. Also verabschiedete sich Pedro nach anderthalb Jahren von seiner Stelle.
Was tun?
Aber Pedro ist clever, das muss er sein, sonst hätte er nicht bis heute überlebt. Seit einiger Zeit dürfen Kubaner Autos kaufen, was früher nur Ausländern vorbehalten war. Nun beginnen die Preise bei 70'000 (nein, nicht Pesos, Franken) aufwärts für einen Neuwagen oder 20'000 Franken aufwärts für einen gebrauchten, aber fahrbaren Lada; absolut jenseits seiner Möglichkeiten.
Aber Kubaner dürfen, wie Touristen, auch Autos vom Staat mieten. Auch da beginnen die Preise bei 40 Franken pro Tag, aber wozu ist man Kubaner. Eine Hand wäscht die andere, Pedro zahlt nur 20 Franken am Tag, und der Angestellte der Autovermietung kriegt die Hälfte davon fürs Risiko, dass entdeckt wird, dass der offiziell defekte Wagen in Wirklichkeit fröhlich fährt. Die andere Hälfte braucht es als Schmiergeld für die Vorgesetzten. Wiedergeburt Pedros als Taxifahrer. Er muss nur schauen, dass er pro Tag mehr als 20 Franken verdient. Mit zuverlässigem Service und einigen festen ausländischen Klienten schafft er das.
Bleiben zwei Probleme. Eigentlich müsste Pedro offiziell beim Staat eine Lizenz als Taxifahrer beantragen und dafür rund 120 Franken im Monat bezahlen, plus theoretisch Gewinnsteuer. Aber eine kleine Propina dort, ein Trinkgeld hier, und alle staatlichen Überwachungsorgane, wo er wohnt und das Auto ja parkieren muss, drücken beide Augen zu. Die Nachbarn sind zwar neidisch und drohen gelegentlich mit einer Anzeige, aber schliesslich haben die auch Transportprobleme ...
Dann bleibt noch das Benzin. Kostet an der staatlichen Tankstelle rund Franken 1.20 pro Liter. Mörderisch, aber wozu gibt es auch hier einen Schwarzmarkt, das senkt den Preis auf 40 oder 50 Rappen. So kann Pedro einigermassen überleben, bis vielleicht auch bei diesen Geschäften wieder mal der Blitz einschlägt. Aber dann wird er etwas anderes erfinden.
Tropische Absurdität
Der Tiefseehafen Mariel, plus Freihandelszone, finanziert durch einen brasilianischen Staatskredit und gebaut durch eine brasilianische Firma, ist offiziell das wichtigste wirtschaftliche Projekt Kubas zurzeit. Ein neuer Plan, der die dramatische wirtschaftliche Situation verbessern soll. Denn die Insel produziert kaum etwas, exportiert neben Zitrusfrüchten, Nickel und Tabak kaum etwas Nennenswertes, ausser Ärzte, Lehrer, Techniker und Sicherheitsberater. Und trotz zunehmendem Billigtourismus bleibt davon sehr wenig in der Staatskasse. Nicht zuletzt müssen auch alle Hotelangestellten schauen, wo sie bleiben.
Also erregte sich die Parteizeitung «Granma» kürzlich darüber, dass es beim Bau des Hafens und der Freihandelszone wieder einmal zu bedenklichen «Unregelmässigkeiten» gekommen sei. Baumaterialien verschwanden im üblichen Ausmass, dafür entstanden beeindruckende neue Wohnhäuser oder zerfallende wurden endlich renoviert. Das sei ein inakzeptabler Mangel an revolutionärer Moral, da müsse an der Haltung einiger Genossen doch noch etwas gearbeitet werden.
Die Lüge als Weltordnung
Dabei ist es einfach so: Der einzige Kubaner, der in Lumpen gehüllt obdachlos durch die Strassen irren würde, bevor er verhungert, wäre der, der sich tapfer an alle Gesetze und alle revolutionären Vorschriften hält. Wäre der, der alle Aufrufe zu mehr Leistung, mehr Hingabe an die Sache der Revolution, mehr Einhaltung aller nötigen Massnahmen zur weiteren Perfektionierung des Sozialismus befolgen würde.
Nun trompetet das Regime auf allen ihm zur Verfügung stehenden Kanälen, und faktisch verfügt es immer noch über das Medienmonopol und Internet ist für die meisten Kubaner nicht zugänglich, diese Propaganda unermüdlich hinaus. Dabei weiss jedes Mitglied des Politbüros, des ZK, jedes Parteimitglied, dass das Lügen sind, an die niemand glaubt. Weiss jedes Parteimitglied, dass es selbst nur überlebt, indem es mischelt, klaut, Beziehungen ausnützt, all das tut, was eigentlich konterrevolutionär und strikt verboten ist. Aber, und daran hat Kafka vielleicht nicht gedacht, wenn die Lüge zur Inselordnung gemacht wird, aber gleichzeitig alle wissen, dass es Lüge ist und selber lügen, dann funktioniert’s. Irgendwie.