In jährlicher Wiederkehr hören und lesen die Verantwortliche des Locarno Festivals neben einigem Lob und mancher Kritik auch harte Vorwürfe. Das übliche. Doch ausgerechnet für die als Jubiläum gefeierte 70. Veranstaltung sprengt die Schärfe des Tadels am Programmkonzept und der Organisation den Rahmen. Das hat Gründe. Sie sind mit der Frage verbunden, wem das Festival gehört.
Verbeugungen und Verärgerungen
Seit je ist das Filmprogramm auf der Piazza Grande diffus. Künstlerische Höhenflüge wechseln mit experimentellen Abstürzen. Mal stehlen sich die Cinéphilen aus der Projektion, mal die Freunde der lockeren Unterhaltung. Verbeugungen nach allen Seiten garantieren Verärgerungen auf allen Seiten.
Organisatorisch war Locarno noch nie über Zweifel erhaben. Zu häufig reichte der Charme nicht aus, die Unzulänglichkeiten zu überspielen. Das die Geduld strapazierende Gerangel um Sitzplätze hat Tradition. Wer mit den Besucherzahlen Jahr für Jahr Rekorde brechen will, müsste in der Lage sein, die Menschenströme komfortabel zu steuern.
Einwände sind psychologisch heikel
Es geht um Selbstverständlichkeiten. Sie wären längst zu erledigen gewesen. Weil die Steine des Anstosses liegenblieben, wurde die Kritik laut und ungnädig. Der konstruktive Umgang mit Einwänden ist in Locarno keine Paradedisziplin. Gepflegt werden andere Qualitäten.
Das Festival ist mehr als lediglich die grösste und national wie international resonanzstärkste Kulturveranstaltung des Tessins. Sie begreift sich als Leuchtturm der eigenen Leistungsfähigkeit und als identitätsstiftendes Fest der Kreativität.
Der emotional aufgeladene Anspruch macht Kritik gerade von jenseits des Gotthards heikel. Reflexartig setzt sie sich dem Verdacht aus, überheblich zu sein und das Tessin gering zu schätzen. Dieses Missverständnis – und es ist eines – erweist sich als fatal, weil es die Festivalleitung veranlasst, enttäuscht, empört und beleidigt auf taub oder auf Gegenangriff zu schalten.
Einmischung in die inneren Angelegenheiten?
Die skizzierte Bockbeinigkeit ist zu Teilen nachvollziehbar. Denn die Verantwortlichen arbeiten laufend an Verbesserungen. Der dieses Jahr in Betrieb genommene „Palazzo del Cinema" beweist den Erneuerungswillen besonders eindrücklich.
Also nur noch Lob spenden? Das würde das Dilemma nicht aus der Welt schaffen. Schulterklopfen kann gönnerhaft wirken. Kritik darf sein, begründete ist Pflicht. Nicht zuletzt deshalb, weil das Festival namhaft von staatlicher Seite finanziert wird.
Dennoch fasst Locarno kritische Anmerkungen gerne als Einmischung in die inneren Angelegenheiten auf. Anmassungen möchte man sich verbeten haben, weil die Veranstaltung dem Tessin gehört, sicher nicht der deutschen und französischen Schweiz oder gar deren Medien.
Das Schicksal in der Hand des Festivals
Das ist richtig. Das Festival wendet sich zwar naturgemäss an die Öffentlichkeit, aber gehört ihr nicht. Es wird von einem privaten Verein verantwortet, der autonom über seine Ziele und die Wege zu ihnen entscheidet – freilich mit sämtlichen Konsequenzen.
Der Unabhängigkeit gebührt der Respekt. Er schliesst weder Missmutsbekundungen noch die Auflistung der Mängel aus, verbietet aber das Dreinreden, vor allem in einer anderen als der italienischen Sprache.
Es liegt in der ureigene Verantwortung des Festivals, am programmlichen und organisatorischen Konzept professionell zu feilen oder aus Trotz und Nonchalance darauf zu verzichten. Entweder gewinnen oder schwinden die Bedeutung und die Anziehungskraft.
Die Festivalleitung hat die Weichenstellung in der eigenen Hand. Sie darf – anspielend auf den hier am 12. August von Roger Anderegg publizierten Artikel – für die spätere Entgegennahme eines Ehrenleoparden geöffnet bleiben.