Vor exakt einem Jahr küsste Festival-Präsident Marco Solari auf der Piazza Grande mit galanter Geste die Hand der italienischen Schauspielerin Stefania Sandrelli. Er war bester Laune und alberte herum, leider sei heute Abend kein Mensch gekommen, um sich den Film anzuschauen. Beide lachten über den Scherz, und dann sagte Solari, wie es wirklich war: „Wir wissen nicht mehr, wohin mit den Leuten.“
Wie wahr! Ein Jahr später erlebt man genau das, und zwar vor allem tagsüber. Trotz des wunderbaren neuen Kinopalastes PalaCinema mit seinen drei Sälen vermag das Filmfestival Locarno, das sich jetzt mit dem Brand „Locarno Festival“ schmückt, das Publikum, das es herbeiruft, schlicht nicht mehr zu fassen. Das schafft täglich bei Hunderten von Besuchern Frustration, Ärger und Enttäuschung, und so ortet man denn rundum Filmfreaks am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Wir stehen und stehen und warten und warten
Was läuft in Locarno grundfalsch? Überall auf der Welt kauft sich, wer ins Kino gehen möchte, einfach ein Ticket. Das Locarno Festival bietet derweil die Wahl zwischen Generalabonnement, Tageskarten und Einzeltickets. Nur: Keine dieser Karten garantiert, dass wir den Film, den wir uns im Programm angestrichen haben, auch zu sehen bekommen. Wenn wir, wie dieses Jahr wiederholt passiert, eine Stunde vor Beginn des Films vor dem Kino anstehen müssen, um überhaupt eine reelle Chance auf einen Sitzplatz zu haben, dann ist das Festival sichtlich an der Grenze seiner Kapazität angelangt oder genauer schon ein kräftiges Stück darüber hinaus.
Die gleichzeitige Belegung der Festival-Säle für kommerzielle Zwecke akzentuiert in Locarno das Chaos. Das geht, wie wir in diesen elf Tagen mehrere Male beobachten konnten, so: Der Saal im PalaCinema oder im Teatro Kursaal, in dem uns auf 19.00 Uhr oder wann immer dieser oder jener Film versprochen wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht frei. Also stehen wir an. Wir stehen und stehen und warten und warten. Erkundigen wir uns, warum es mit dem Einlass nicht vorwärts geht, zucken die liebenswürdigen Leute vom Staff die Schultern: „Wir können nichts dafür“, sagen sie. „Da müssen Sie weiter oben fragen.“
Wut und Empörung
Bei der Weltpremiere des wunderbar eigenwilligen und hinreissend fotografierten Schweizer Erstlings „Dene wos guet geit“ von Cyril Schäublin im PalaCinema beginnt die Stimmung im riesigen Foyer eine halbe Stunde nach dem im Programmheft versprochenen Beginn zu eskalieren. Längst schwant den Verantwortlichen, dass nicht alle der Wartenden in Sala 1 Platz finden werden. Was tun sie also? Sie verteilen den 300 zuvorderst Stehenden in der Schlange rote Karten; dieses zusätzliche Exklusivticket soll sie für ihr Warten belohnen und ihnen den Einlass sichern. Daraus darf man wohl im Sinne der Logik folgern: Der Staff weiss in diesem Moment haargenau, dass bestenfalls die Hälfte der Anstehenden im Saal Platz finden wird. Lässt man uns das jetzt auch wissen? Ach wo! Falls jemand irgendeine Order ausgibt, geht die im Lärm der Anstehenden unter. Die Kunde von der Erfindung des Megaphons hat es offenbar noch nicht bis nach Locarno geschafft.
Inzwischen kulminieren Wut und Empörung im Foyer. Noch immer raten die sympathischen Jungs vom Staff, Ärger inzwischen gewohnt: „Sagt’s denen oben!“ Ja gern, aber wie bitte? Doch schau an: Wunder geschehen nicht nur auf der Leinwand! Denn in eben diesem Moment tänzelt einer von denen von „oben“ vor uns hier „unten“ vorbei. „Hallo, Herr Chatrian!“, rufen wir erfreut, „Was geht hier vor?“ Der künstlerische Direktor, immerhin die Nummer zwei des Festivals, bleibt stehen und holt zu einer langatmigen Erklärung aus, steigert damit aber prompt den Unmut der Enttäuschten, dem er sich dann mit folgendem Merksatz entzieht: „Ich bin hier für das Programm verantwortlich, nicht für die Organisation.“
Nahe an einem Weinkrampf
Du lieber Himmel! Da verschlägt es uns nun doch die Sprache, und wir sind nicht mal mehr imstande, Carlo Chatrian zu seiner hinreissenden Programmierung auf der Piazza Grande zu gratulieren, die heuer, wie wir hören, die Filmfreunde in grosser Zahl von der Piazza in die Beiz gerissen hat.
Diese Episode haben wir in Varianten mehrmals in den elf Tagen in Locarno erlebt. Einmalig am geschilderten Beispiel sind nur das zufällige Erscheinen von Carlo Chatrian und der Einsatz der roten Zusatzkarten (die in anderen Fällen dem Vernehmen nach weiss waren) als neue VIP-Kategorie. Filmreife Pointe des Ganzen: Ein paar Besitzer von roten Karten werden, da angeblich kein freier Platz mehr vorhanden, abgewiesen und sind nahe an einem Weinkrampf. Und drinnen bleiben, ich schwöre es, insgesamt ein knappes Dutzend Sessel leer.
Von der Filmindustrie belegt
Die nachträgliche Recherche ergibt: Die drei Kinosäle im PalaCinema wie auch das Teatro Kursaal werden nicht nur von den Festival-Besuchern benutzt, sondern auch von der Filmindustrie für kommerzielle Zwecke belegt, nämlich von Produzenten und Verleihern mit ihren Trade Shows sowie von anverwandten Branchen und Sponsoren. Deren Events überschreiten häufig den vorgegebenen Zeitplan.
Damit aber geht auch unser Zeitplan, der des wartenden und bezahlt habenden Publikums, in die Hosen. Denn selbst wenn wir wunderbarerweise zu den Auserwählten gehören, die im konkreten Fall gerade noch Zutritt finden – den nächsten Film, den wir uns im Programm angestrichen haben, können wir schon mal glatt vergessen. 30 oder mehr Minuten Verspätung bei einem Filmstart liegen in Locarno nicht drin, da es dann gar nicht zum nächsten Kino reicht, das bis dann sowieso ausgebucht ist.
Trotz 70 Jahren praktischer Erfahrung
Kommt verschärfend hinzu, dass verbindliche Spielregeln bei diesem organisierten Chaos fehlen und jeder Saal nach eigenem Gutdünken fuhrwerkt. So bekommt man im einen Fall in L’altra Sala schon 45 Minuten vor der Vorstellung wohlweislich kein Einzelticket mehr – im PalaVideo hingegen kann man noch zehn Minuten vor Beginn getrost ein Einzelticket erwerben und marschiert damit lächelnd an der wartenden Menschenschlange vorbei. Da stehen dann halt die Dummen: die Käufer von GAs und Tageskarten.
Am Locarno Festival läuft einiges massiv aus dem Ruder. Dabei verfügt Locarno gerade heuer über immerhin 70 Jahre praktischer Erfahrung. In so langer Zeit müsste man sich doch eine Logistik erarbeitet haben, die nicht rundum Frustration erzeugt. Wie renommierte Filmkritiker berichten, die uns in Locarno permanent über den Weg laufen, kennen zum Beispiel die Internationalen Filmfestspiele Berlin mit mehr als 300’000 Eintritten null Problem mit Warteschlangen und schon gar nicht mit abgewiesenen Besuchern. Warum schaffen die das – und Locarno nicht?
Marco Solari geht leer aus
Und vielleicht noch dies: Warum lesen wir in unseren Tageszeitungen während des Festivals laufend tolle Filmrezensionen, aber kaum ein Wort über den täglichen Publikums-Ärger?
Dafür wenigstens gibt es eine einfache Erklärung: Die Journalistinnen und Journalisten sind in aller Regel zu exklusiven Pressevisionierungen eingeladen, und dort gehört der Saal ganz ihnen. Sie nehmen die Not der Massen gar nicht wahr, oder wenn, dann bestenfalls belustigt. Ein alter Journi-Kollege, auf den eklatanten Missstand angesprochen, sagt: „Das alles ist nicht neu, es hat sich mit dem PalaCinema nur noch verschärft. Aber das ist nicht meine Geschichte. Ich möchte schliesslich auch nächstes Jahr wieder eine Akkreditierung kriegen.“
Das also war Locarno 2017 – nebst zahlreichen tollen neuen Filmen. Den Ehrenleoparden für den liebenswürdigen Umgang, nicht nur mit Stars und Managern, sondern auch und gerade mit dem zahlenden Publikum, können wir Marco Solari leider nicht überreichen.