Zu Weihnachten hat Eric Gujer kräftig die Alarmglocken geläutet. In seinem Newsletter «Der andere Blick» warnte der Chefredakteur der NZZ seine Leser vor der Politik der neuen deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock. Denn die wolle künftig «Weltinnenpolitik» betreiben. «Niemand soll später sagen, er sei nicht gewarnt worden», liess der Schweizer seine deutschen Leser mit drohendem Unterton wissen.
Folgt man den Ausführungen Gujers, dann wird nicht so ganz klar, worüber er sich mehr aufregt, über die stärkere Orientierung Baerbocks am Thema der Menschenrechte oder über die ihr unterstellte mangelnde Bereitschaft, «Realpolitik mit Waffen» durchzusetzen. Das spielt auch keine Rolle, denn Gujer ist völlig klar, dass «Weltinnenpolitik» das Schlüsselwort für die Katastrophe ist, auf die Baerbock unweigerlich zusteuert. Denn für ihn ist Innenpolitik grundsätzlich ideologisch geleitet und endet in zerstörerischen Konflikten, während es in der Aussenpolitik darum gehe, «einen Krieg zu vermeiden».
Aus deutscher Sicht hat der Begriff «Weltinnenpolitik» jedoch eine völlig andere Bedeutung als Eric Gujer meint. Er geht nämlich auf den Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker zurück, der ihn 1939 in einem Gespräch mit dem Philosophen Georg Picht aufgebracht hat. Dieses Gespräch fand im Zusammenhang mit Messungen statt, die erwiesen, dass die Kernspaltung möglich ist. Das war der erste Schritt zum Bau der Atombombe. Von nun an, so Weizsäcker, musste die Weltpolitik neu gedacht werden. Weil alle Staaten unter der Drohung dieser Waffe mit einer bis dahin nicht gekannten zerstörerischen Dimension stehen, müssen sie die Vermeidung ihres Einsatzes als ein Problem erkennen, das international engste Kooperation erfordert. Ideal wäre, so die utopische Überlegung, eine Weltregierung, die dann «Weltinnenpolitik» ermöglichen würde.
Die Konsequenzen aus der nuklearen Bedrohung haben die politische Diskussion der Bundesrepublik Deutschland in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg stark beeinflusst, wobei die «Göttinger Erklärung» von 1957 ebenso eine Rolle spielte wie das später in Starnberg gegründete Max-Planck-Forschungsinstitut, das sich unter der Leitung Weizsäckers und von Jürgen Habermas mit Fragen der Zukunft beschäftigte.
Niemand wird bezweifeln, dass es für Annalena Baerbock in der Aussenpolitik noch vieles zu entdecken und zu lernen gibt. Aber ihr ausgerechnet vorzuwerfen, dass sie sich den Begriff der «Weltinnenpolitik» zu eigen macht, offenbart peinliche Wissenslücken. Zudem wüsste man zu gern, was Gujer der neuen Aussenministerin – noch kaum im Amt – rät. Ein entschiedeneres machtpolitisches Auftreten kann ganz sicher nichts schaden, aber man sollte dabei bedenken, dass die allgemeine Wehrpflicht kurzerhand von einem CSU-Verteidigungsminister unter der Kanzlerschaft Merkels abgeschafft wurde. Und es wäre eine interessante Frage, wer einen grösseren Anteil am jahrzehntelangen Kaputtsparen der Bundeswehr hat, die SPD oder die CDU?
Und es war Angela Merkel, die zusammen mit Emmanuel Macron gegen den ausdrücklichen Willen der Amerikaner im vergangenen Jahr noch ein Investitionsabkommen mit China auf den Weg gebracht hat. Aber Gujer heftet den Makel des Pazifismus allein den Grünen an: «Statt Plädoyers für Menschenrechte Realpolitik mit Waffen – sind die pazifistischen Grünen dazu bereit?» Wer die deutsche Politik in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, musste ein zunehmendes Desinteresse an aussenpolitischen Fragen und Themen der Verteidigung feststellen – weit über das Milieu der Grünen hinaus. Kassandrarufe helfen da aber nicht weiter.