Doch Burckhardts Neffe Jacob Oeri fand den Text interessant, brachte ihn, ohne den Inhalt anzutasten, in eine gut lesbare Form und gab ihn 1905 unter dem Titel „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ heraus. Man fühlt sich an Kafkas Freund Max Brod erinnert, der nach dem Tod des grossen Schriftstellers dessen wichtigste Werke gegen den Willen des Autors, aber zum Nutzen der Nachwelt, publizieren liess.
Jacob Burckhardt war, als er seine „Betrachtungen“ niederschrieb, fünfzig Jahre alt. Der Spross aus alter Basler Familie, Sohn des Münsterpfarrers, hatte erst in Basel Theologie, dann in Berlin und Bonn Geschichte studiert. Im Jahre 1843 doktorierte er in Basel, hielt sich längere Zeit in Paris und wiederum in Berlin auf und unternahm seine erste von mehreren Reisen nach Italien.
Eng verbunden mit der Vaterstadt Basel
Die Aufenthalte in diesem Land wurden, ähnlich wie die „Italienische Reise“ für Goethe, wegweisend für sein Schaffen. Zwei seiner wichtigsten Werke, der „Cicerone“, ein kunsthistorischer Reiseführer, und „Die Kultur der Renaissance in Italien“, sein wohl meistgelesenes Buch, wurden hier konzipiert. Zur Geschichte der Antike publizierte Burckhardt 1853 „Die Zeit Konstantins des Grossen“. Seine „Griechische Kulturgeschichte“ wurde wieder von Oeri aus dem Nachlass herausgegeben. Dieses Buch, von den zeitgenössischen Fachgelehrten kritisch aufgenommen, wird heute vom Althistoriker Wilfried Nippel als „Innovation ersten Ranges“ bezeichnet.
Der Junggeselle Jacob Burckhardt führte ein nicht ungeselliges, aber doch zurückgezogenes Gelehrtenleben. Er blieb seiner Vaterstadt zeitlebens eng verbunden. Nach einer kurzen journalistischen Tätigkeit an der konservativen „Basler Zeitung“ unterrichtete er zuerst am Pädagogium, der Oberstufe des späteren Gymnasiums, und nach 1858 als Ordinarius für Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität.
Der Lehrtätigkeit galt seine besondere Hingabe. Im selbst verfassten Lebenslauf, der beim Tod des Historikers in der Basler Elisabethenkirche verlesen wurde, ging Jacob Burckhardt bescheiden über sein wissenschaftliches Œuvre hinweg und betonte, er habe vor allem für sein Lehramt gelebt, „in welchem die beharrliche Mühe durch ein wahres Gefühl des Glückes aufgewogen wurde“.
Jacob Burckhardt war, wie aus den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ hervorgeht, ein aufmerksamer und kritischer Zeitgenosse. Das europäische 19. Jahrhundert, das er als Zeitgenosse überblickte, erschien ihm als eine schwierige und bedrohliche Übergangsphase, in der die aristokratische Herrschaftsform ausgehöhlt und erschüttert, die demokratische Herrschaftsform aber noch nirgends überzeugend etabliert worden war. Die Französische Revolution, welche das „Ancien Régime“ weggefegt, dann aber zur mörderischen Terrorrherrschaft Robespierres und zur Diktatur Napoleons geführt hatte, stand als Menetekel vor aller Augen.
"Und nun ist Macht an und für sich böse"
Burckhardt, der über ein sensibles Krisenbewusstsein verfügte, nahm die Versuche zur revolutionären Neugestaltung, wie die Juli-Revolution von 1830 und die Februarrevolution von 1848 sie darstellten, mit pessimistischer Skepsis wahr. Seine Sorge vor gewaltsamen Umsturzversuchen gründete in einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Begriff der Macht. „Und nun ist Macht an und für sich böse“, lesen wir in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, „gleichviel, wer sie ausübe.“
Im Menschen sah Burckhardt ein ambivalentes, aus Gut und Böse widersprüchlich gemischtes Wesen, das der Gier, Macht auszuüben, nur zu oft erlag. „Und nun ist das Böse auf Erden“, schreibt er, „allerdings ein Teil der grossen weltgeschichtlichen Ökonomie: es ist die Gewalt, das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, vorgebildet schon in demjenigen Kampf ums Dasein, welcher die ganze Natur, Tierwelt wie Pflanzenwelt, erfüllt, weitergeführt in der Menschheit durch Mord und Raub in den früheren Zeiten...“
An einen Sinn der Geschichte, an eine Gesetzmässigkeit ihres Ablaufs, glaubte Burckhardt nicht. „Wir sind aber nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit“, schreibt er, „und kennen sie nicht. Dieses kecke Antizipieren eines Weltplanes führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Prämissen ausgeht.“ Dem Glauben, dass göttliche Vorsehung den Gang des Weltgeschehens bestimme, hatte bereits der junge Pastorensohn eine Absage erteilt.
Nicht minder fremd war Burckhardt Hegels Geschichtsphilosophie, die im Geschichtsverlauf den Fortschritt des Menschen zu höherer Freiheit sah. „Weder Seele noch Gehirn des Menschen“, schreibt er, „haben in historischen Zeiten erheblich zugenommen, die Fähigkeiten jedenfalls waren längst komplett.“ Und: „...unsere Präsumption, im Zeitalter des sittlichen Fortschritts zu leben, ist höchst lächerlich.“
Tiefe Zweifel gegen industriellen Fortschritt
Dem Prozess der Industrialisierung, der sich vor seinen Augen abspielte, stand Jacob Burckhardt sehr kritisch gegenüber. Vor allem in seinen lesenswerten Briefen, aber auch in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, finden sich zahlreiche Passagen, die sich, nicht immer mit den besten Argumenten, gegen das Fabrikwesen, gegen den Eisenbahnverkehr, gegen die Urbanisierung und gegen den aufkommenden Materialismus wenden.
Was unheildrohend in Amerika geschah, sah er auch für Europa Wirklichkeit werden: „Oder soll gar alles“, klagt er, „zum blossen business werden wie in Amerika?“ Der Industrialisierungsprozess führte, Burckhardts Meinung nach, zu einer Radikalisierung der Massen und zu „sozialistischen und kommunistischen Theorien“, die leicht zum „Despotismus“ eines mächtigen Alleinherrschers führen konnten.
Menschlicher Grösse stand Burckhardt mit höchstem Misstrauen, aber auch mit einer Art von Faszination gegenüber. „Die Geschichte liebt es bisweilen“, schreibt er, „sich in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht.“ Dies geschehe vornehmlich in Augenblicken der Krise, wenn das Bestehende und das Neue aufeinander träfen.
Auch für die grossen Individuen gelte, „dass nie eine Macht ohne Verbrechen gegründet worden“ ist. Zugleich könne die Geschichte auf solche Individuen nicht verzichten: „Denn die grossen Männer“, lesen wir in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, „sind zu unserem Leben notwendig, damit die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise freimache von blossen abgestorbenen Lebensformen und von reflektierendem Geschwätz.“
Historische Gestalten und Seelengrösse
Der grossen geschichtlichen Gestalt gesteht der Historiker eine „Dispensation von dem gewöhnlichen Sittengesetze“ zu. Durch Seelengrösse, räumt er ein, seien diese Figuren nur selten geprägt: „Das Allerseltenste aber“, schreibt er, „ist bei den weltgeschichtlichen Individuen die Seelengrösse. Sie liegt im Verzichtenkönnen auf Vorteile zugunsten des Sittlichen, in der freiwilligen Beschränkung nicht bloss aus Klugheit, sondern aus innerer Güte, während die politische Grösse egoistisch sein muss und alle Vorteile ausbeuten will.“
Nicht alles ist für heutige Leser, die auf zwei Weltkriege und auf Figuren wie Hitler, Mussolini und Stalin zurückblicken, so aktuell geblieben, wie Burckhardts Bemerkungen zum Geschichtsverlauf, zu Macht und Grösse des Individuums im Strom der Zeit.
Den Kapiteln der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, die der Historiker den seiner Meinung nach wichtigsten geschichtlichen Wirkungskräften, dem Staat, der Religion und der Kultur, widmet, wird man heute kaum mehr zustimmen können. Die Religion würde man wohl durch die Wirtschaft ersetzen, welche Burckhardt noch glaubte der Kultur unterordnen zu können; auch hat sich der Kulturbegriff seit der Zeit des Bildungsbürgertums, dem Burckhardt angehörte, sehr verändert.
Unabhängig vom Zeitgeist
Erstaunlich und bedenkenswert bleiben nach wie vor jene Passagen des Buches, in denen Burckhardt es wagte, den geschichtlich handelnden Menschen mit den Kategorien von Gut und Böse zu konfrontieren. Darin liegt die geniale Originalität seines Denkens, und damit stellte er sich in Widerspruch zu seiner Zeit, welche ihr Heil in der Machtsteigerung des Nationalstaates suchte und grosse Persönlichkeiten wie Napoleon III. und Bismarck geradezu vergötterte. In seiner Unabhängigkeit gegenüber dem Zeitgeist traf sich Burckhardt mit seinem Basler Kollegen Friedrich Nietzsche, der sich in einer seiner „Unzeitgemässen Betrachtungen“ kritisch zum Siegesrausch geäussert hatte, der Deutschland nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ergriffen hatte.
Einem Freunde schrieb Nietzsche: „Gestern abend hatte ich einen Genuss, den ich Dir vor allem gegönnt hätte. Jacob Burckhardt hielt eine freie Rede über ‚Historische Grösse’, und zwar völlig aus unserem Denk- und Gefühlskreise heraus.“ Dreissig Jahre später, als die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ erschienen, schrieb Friedrich Meinecke, einer der wenigen deutschen Historiker, die der Versuchung des Nationalsozialismus widerstanden: „So spüren wir in allen seinen Urteilen und Auffassungen eine Frische und Ungebrochenheit, eine Freiheit von Schulmeinung und Konvention, eine Selbständigkeit gegenüber den grossen Zeitströmungen, wie wir sie seit Ranke bei keinem deutschen Historiker wieder erlebt haben.“
Kein entmutigendes Buch
Trotz ihres Geschichtspessimismus sind die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ kein finsteres, entmutigendes Buch. Man spürt auf jeder Seite das lebendige und belebende Interesse, das Burckhardt am „duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist, war und sein wird“ nimmt. In den einleitenden Kapiteln nennt sich der Autor, was man ihm oft zum Vorwurf gemacht hat, einen „Dilettanten“, einen Liebhaber der Geschichte. Er meint damit jenen Geschichtsbetrachter, dem sein Studium zu einem Quell persönlicher Glückseligkeit zu werden vermag. Und zu einem Quell persönlicher Erfahrung und Erkenntnis: „Was einst Jubel und Jammer war“, schreibt er, „muss nun Erkenntnis werden, wie eigentlich auch im Leben des einzelnen.“ Und weiter: „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal), als weise (für immer) werden.“