David Camerons möglicher Nachfolger hat die Brexit-Abstimmung für persönliche Ambitionen missbraucht.
Boris Johnson fühlt sich unwiderstehlich. Und er ist beliebt. Sein unkonventionelles Auftreten kommt an. Oder besser: Es kam an.
Er kämpfte an vorderster Front für einen Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Seine Freunde erklären, er sei eigentlich ein EU-Befürworter. "Ich kann nicht genug betonen“ schreibt Johnson nach Abstimmung im Daily Telegraph, „dass Grossbritannien ein Teil von Europa ist und dass das immer so bleibt."
Warum also kämpfte er gegen die EU? Er will Parteichef und Premierminister werden und David Cameron beerben. Um das zu erreichen, braucht er die Stimmen der Euro-Skeptiker in der eigenen, der konservativen Partei.
Sein Kalkül, an dem kaum jemand mehr zweifelt, war: Die Briten sagen Ja zur EU, wie es die Meinungsumfragen, die Buchmacher und die Wirtschaft prgnostizierten. "Und ich, Boris J. gewinne dann die Wahl zum Parteichef. Viele Stimmen habe ich ja schon, jetzt habe ich auch jene der Euro-Skeptiker."
Die Tories haben schon immer euro-skeptische Politiker bevorzugt, jene, die genüsslich eine Distanz zum Kontinent markierten. Das gehört zur britischen Kultur. Seit Margaret Thatcher, einst eine Pro-Europäerin, die dann ins andere Lager schwenkte, sind die Konservativen eine Europa-kritische Partei.
Doch der schlaue Fuchs Boris war nicht schlau genug. Jetzt hat er das Ergebnis, das er nicht wollte. Und die Häme - und die Wut vieler Tories. In Meinungsumfragen fällt der einst gehätschelte Londoner Bürgermeister schon arg zurück. Innenministerin Theresa May liegt schon deutlich vor ihm.
52 Prozent stimmten für den Austritt. Hätte Boris, damals beliebt wie kein anderer, seine wahre Weste gezeigt und für einen Verbleib in der EU geworben, wäre – das ist zu vermuten – das Ergebnis knapp umgekehrt herausgekommen.
Jetzt fühlen sich die Briten betrogen von ihm. Sie sind empört über das Kalkül ihres einstigen Lieblings. Wegen seines persönlichen Machtstrebens hat er das Land in Aufruhr versetzt.
Viele Versprechungen hat er bereits wenige Stunden nach der Abstimmung zurückgenommen. So sagte er, nein, die eingesparten EU-Zahlungen würden doch nicht ins britische Gesundheitswesen gehen. Und: Nein, auch wenn wir nicht mehr in der EU sind, kann die Zuwanderung von Flüchtlingen nicht gestoppt werden. Die Wähler wurden getäuscht: Johnson sagte ihnen, den Zugang zum Binnenmarkt der EU gebe es auch ohne Freizügigkeit. Alle wissen, dass das nicht stimmt.
Umfragen zeigen: Bereits würden viele Briten umgekehrt stimmen. „Wir wussten nicht, was da auf uns zukommt“, sagen sie. „Wir ahnten nicht, dass es uns schlechter gehen wird“. Alles artet zu einer Komödie aus. Nein, eigentlich wollen wir nicht austreten, sicher nicht sofort.
Viele Briten fühlen sich betrogen von ihm. Vor allem auch die Jungen, die sagen, „ihr alten Säcke habt uns die Zukunft versaut“.
Jetzt die Verwirrung: Wie geht es weiter? Die Abstimmung war rechtlich nicht bindend, also bleibt man in der EU? Kann das Parlament den Entscheid umkehren und den Brexit stoppen? Rechtlich gesehen ja, denn das Parlament ist in Grossbritannien der eigentliche Souverän. Gibt es eine zweite Abstimmung? Gibt es 15 Monate nach den letzten Wahlen wieder Neuwahlen? Was nützen die Millionen Unterschriften, die jetzt gegen den Brexit gesammelt wurden? Wird Schottland eine weitere Unabhängigkeitsabstimmung lancieren? Gibt es Neuverhandlungen über das Verhältnis U.K.-EU? Sogar die irre Idee kam auf, dass sich London vom Königreich abspaltet, sich für unabhängig erklärt und in der EU bleibt.
Boris J. hatte keinen Plan für den Tag nach der Annahme des Brexit. Er hatte keinen, weil er nicht an den Austritt glaubte. Langsam merken die Brexit-Adepten, dass der Austritt zu einer teuren Posse wird. Jetzt will Johnson plötzlich doch nicht mehr sofort aus der EU austreten - aus diesem Monster, das die EU-Gegner als "Völkergefängnis" bezeichnen, als eine "von den Teutonen gesteuerte und von der Sklavenhalterin Merkel gemanagten Diktatur".
Boris Johnson, der Aufwiegler, hat nicht nur sich zerlegt, sondern das ganze Land – und auch den Labour-Führer Jeremy Corbyn, dem die Linke vorwirft, nicht energisch genug für die EU gekämpft zu haben. Natürlich hat der Brexit auch gravierende Folgen für die europäischen Partner des Königsreichs.
Sicher kann man auch vielen Briten den Vorwurf machen, dass sie arglos in diese Abstimmung hineingestolpert sind und sich nicht seriöser über die möglichen Folgen informiert haben. Und auch den Jungen kann man vorwerfen, dass sie nicht vermehrt zu den Urnen gegangen sind. Hätten sie es getan, würde das Ergebnis anders aussehen.
Sicher ist die EU reformbedürftig und der Brüsseler Bürokratie-Moloch hat viel Schaden angerichtet, und sicher gibt es andere starke EU-Gegner, die ihre Gründe haben.
Und natürlich ist Boris Johnson nicht allein schuld an diesem Ergebnis. Doch er, der einst charismatische Führer und Verführer trägt eine wesentliche Mitschuld. Viele glaubten blind seinen Versprechungen und Behauptungen, die er jetzt schon zurückgenommen hat.
Ohne ihn würde das Königreich wohl in der EU bleiben. Er spielte ein falsches Spiel, missbrauchte die Abstimmung für seine persönlichen Ambitionen und glaubte so, Premierminister zu werden.
Das stolze Britannien verdient bessere, aufrichtigere Regierungschefs.