Der Schriftsteller wollte auch in der realen Welt als Stimme der Vernunft und Versöhnung im Konflikt zwischen Israel und Palästina gehört werden, nicht aber als Pazifist. Hat seine Botschaft aktuell noch Geltung? Versuch einer kurzen, komplementären Neulektüre. Von Raphael Labhart
Wozu ist Literatur imstande? Die Frage mag angesichts der jüngsten Eskalation im Nahost-Konflikt im besten Fall als schöngeistig, im schlimmsten als Ausdruck anmassender, akademischer Verblendung interpretiert werden. Es sei denn, man teilt Amos Oz’ Überzeugung, welche ihn neben seinem epochalen Werk überdauert: «Wörter können töten, das wissen wir nur zu genau. Aber Wörter können auch, obwohl nur begrenzt, manchmal heilen.» Töten Wörter? Nein, doch wir verstehen. Heilen Wörter? Ja, eine gewisse genesende Kraft ist ihnen nicht abzusprechen. Aber der Reihe nach.
Das Zitat des 2018 verstorbenen, mit unzähligen Preisen ausgezeichneten israelischen Literaten und Aktivisten ist Legende. Zeitlebens setzte er sich für die aktuell fast undenkbar gewordene Zweistaatenlösung ein. Allein als Pazifist wollte Oz nicht in Erinnerung bleiben, was er in einer Rede an der Universität Tel Aviv kurz vor seinem Tod bekräftigte. Gewalt sei nicht das schlechthin Böse in der Welt, sondern die Aggression: «Deshalb habe ich nie an ‘make love not war’ und ‘all you need is love’ geglaubt. Und glaube auch nicht daran, die zweite Wange hinzuhalten.» Genau darin habe ein häufiges Missverständnis zwischen ihm und seinen Kollegen aus Europa und Nordamerika bestanden. Ertappt?
Verstehen und Verständnis
Genrewechsel. Der Erzählband «Unter Freunden» erschien 2012 und behandelt aus autobiographischer Warte das Leben im fiktiven Kibbuz «Jikhat» nahe der jordanischen Grenze in den 60er- und 70er-Jahren. In der Kurzgeschichte «Deir Adschlun» kämpft der junge Jotam mit den rigiden Strukturen der sozialistischen Gemeinschaft, will ausbrechen: «Ich kann nicht mehr. Ich bekomme keine Luft.» Es ist die Luft, welche die Asche des von der israelischen Armee zerstörten Araberdorfes Deir Adschlun in den Kibbuz hinüberträgt.
Jotams Onkel will ihn zwecks Studium nach Italien holen, doch der Vorstand des Kibbuz winkt mit Verweis auf die Unmöglichkeit des Privilegs ab: «Jeder einzelne von uns muss sich als Mensch sehen, der seine Pflicht zu tun hat. Es sind die kritischsten Jahre in der Geschichte des jüdischen Volkes.» Jotam hadert, Jotam wandert, besucht mit «unbestimmtem Drang» die Ruinen des Dorfes nebenan. Ihm ist, als wäre genau dort eine Antwort zu finden, doch «auf welche Frage, das wusste er nicht».
Amos Oz wird 1939 im Jerusalemer Viertel Kerem Avraham als Amos Klausner geboren. Nach dem Suizid der Mutter und dem Wegzug des Vaters nach London, geht er 1954 allein in den Kibbuz Chulda, wo er den Namen «Oz» (hebr. «Kraft») annimmt. Ab 1958 dient er drei Jahre in der Infanterie, danach studiert er Literatur und Philosophie. 1967 kämpft er im Sechstagekrieg im Sinai und wird dabei verletzt. Er ist darauf Mitbegründer der Friedensbewegung «Schalom Achschaw» (Peace Now). Zu seinen bekanntesten Werken zählen im deutschsprachigen Raum «Mein Michael», «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis» und «Judas». Oz stirbt 2018. Seine Bücher wurden in 36 Sprachen übersetzt, was ihn zum meistübersetzten israelischen Autor macht. Oz wurde mit zahlreichen Ehrendoktorwürden und u. a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Traum, Vision, Albtraum
Zurück zu Oz’ faktischer und adressierter Überzeugung. In der Essaysammlung «Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers» (2017) wird das Motiv der Ziellosigkeit jäh in die israelische Realpolitik übertragen. Oz geisselt vorweg den Fanatismus (nicht nur, aber vor allem den islamischen) als «schlechtes Gen», als «kompromisslose Selbstgerechtigkeit», aber auch als Unfähigkeit, über sich selbst zu lachen. Eine Teilimmunisierung, so die These, könnten Neugier und Phantasie bewirken. Imagine? Die entwaffnende Analyse vor dem Hintergrund der militärischen Überlegenheit entgegen dem bekannten Narrativ lautet: «Wir haben [im Jom-Kippur-Krieg] verloren, weil wir unser Ziel nicht erreicht haben, und wir haben es deshalb nicht erreicht, weil wir letztlich überhaupt kein Ziel hatten und auch keines haben konnten, das mit militärischen Mitteln zu erreichen gewesen wäre.» Wir halten inne. Gaza, Bodenoffensive, Hamas entmachten – und dann?
Oz verweist weiter auf das «Leben in ständiger Erniedrigung von Millionen Palästinensern in den besetzten Gebieten», entwirft ein Szenario des Schreckens: «Wenn die palästinensische Selbstverwaltung zusammenbricht, werden wir auch in der Westbank der Hamas gegenüberstehen.» Was passiert dort gerade? Israels militärische Stärke könne in dieser Hinsicht nur eines: Ein Desaster oder die Vernichtung vermeiden. Allein die im Anschluss wiederholt aufgebrachte Idee des «Zweifamilienhauses», also der Zweistaatenlösung, scheint in dieser Schrift binnen kürzester Frist schlecht gealtert. Oder gewinnt in dieser dunklen Stunde just dieser Traum, diese Vision mehr denn ja an Strahlkraft?
Recht und Anrecht
Über das selbstproklamierte Anrecht ultraorthodoxer Siedler auf ganz Israel – in Engführung mit dem radikalislamischen Anspruch eines Landes «vom Mittelmeer bis zum Jordan» (wie es dieser Tage bezeichnenderweise auch bei Demonstrationen auf europäischen Strassen zu lesen ist) – kehren wir von Oz’ Essay zu Jotams unmöglichem Privileg und Dilemma im literarisierten Kibbuz zurück: Er darf nicht gehen, weil dies das soziale Gefüge ins Wanken, das politische Selbstverständnis der Gemeinschaft in Gefahr bringen würde. Doch Jotam weiss ohnehin nicht, wohin mit sich, denkt an den biblischen Ausdruck: «Und sein Ort kennt ihn nicht mehr.» Die Worte hallen nach.
Genau jetzt macht sich Jotam noch einmal auf ins verlassene Araberdorf. Ein Brandhauch liegt in der Luft. Dann beugt er sich über den Rand eines Brunnens, «sah aber nichts als Finsternis, und es kam ihm vor, als hörte er in der Tiefe ein beständiges, gleichmässiges Rauschen, das Rauschen eines fernen Meeres, wie wenn man eine Muschel ans Ohr hält». Das Ende bleibt offen. Eine tiefe und gewollte Leerstelle. Jotam denkt, hört und horcht, denn Jotam braucht Antworten. Und ein Ziel.
Und wir beobachtende Leserinnen und Leser, wissen wir nun weiter? Sind wir «schlauer»? Nein, wohl kaum. Wer das Gegenteil behauptet, muss sich den Vorwurf der Hybris und der zynischen Anmassung gefallen lassen. Wir müssen uns eingestehen: Die Schwere der Situation lähmt immer noch, macht rasend, hilflos – und macht Angst. Aber wer Amos Oz zugehört hat, wird in diesem Moment keine Wörter verschwenden, sondern diese mit Bedacht wählen und überlegt zur Sprache bringen. Und jetzt erst recht, so unmöglich dieses Ansinnen gerade erscheinen mag: Überall nach den Stimmen der Vernunft und der Hoffnung suchen – wider Hass, Fanatismus und Hoffnungslosigkeit. Das kann Literatur. Immerhin.
Amos Oz: Unter Freunden. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Suhrkamp 2014.
Amos Oz: Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Suhrkamp 2020.
Raphael Labhart, 36, ist Gymnasiallehrer und Moderator. Er lebt in Zürich