Während dreier Monate haben sich die Medien mit den National-, Stände- und Bundesratswahlen 2023 befasst. Der Nebel über Analysen, Ursachenforschung von Wahlerfolgen und -debakeln hat sich gelichtet. Was bleibt? Wohin treibt das Land?
In Dutzenden von Medienbeiträgen wurde scharfsinnig analysiert, wurden Erfolgsmodelle gesucht und Pleitenursachen eruiert. Die politischen Parteien erhielten ungefragt Rezepte, wie sie sich zu verhalten hätten, wollten sie wieder zu Erfolgserlebnissen zurückkehren. Ab und zu haben Autoren und Journalisten sich gefragt, wie viel vom Stimmenzuwachs einer Partei auf leere oder nicht realisierbare Rezepte zurückzuführen sei.
Globales und lokales Umfeld
Wohl niemand wird bestreiten wollen, dass die politische, unsichere Lage auf der Welt einerseits und die virulenten, ungelösten Probleme in der Schweiz andererseits die Stimmung der Bevölkerung und das Verhalten an der Urne beeinflusst haben. Putins Krieg in der Ukraine und ein drohender Flächenbrand im Nahen Osten, die Bedrohungen der Klimaerwärmung, Inflationsängste oder Pandemienachwirkungen – all dies bewirkt Unsicherheit, zum Teil gar Ratlosigkeit bei vielen Menschen.
Die Explosion der Gesundheitskosten, steigende Mieten, unsichere Perspektiven der persönlichen Altersvorsorge – diffuse Zukunftsängste mögen da und dort aufgekommen sein. Doch im Vordergrund und abstimmungsentscheidend stand die überbordende Zuwanderung in die Schweiz («es kommen zu viele») und in deren Schatten das Verhältnis der Schweiz zur EU.
Eine diffuse Angst in Teilen der Bevölkerung ist unübersehbar und beeinflusste die Wahlentscheidungen. Doch: Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Wer beteiligte sich im ersten Wahlgang an der Meinungsfindung und was resultierte daraus?
Ob zufrieden oder nicht mit den Wahlausgängen – es ist interessant zu fragen, wie die Resultate zustande kamen, wer überhaupt abstimmte? Es sind 27 Prozent der Bevölkerung von 9,7 Millionen (inkl. Auslandschweizerinnen und -schweizer). Von der Gesamtbevölkerung waren 60 Prozent wahlberechtigt (5,83 Mio.) und 2,66 Mio. von ihnen machten vom Wahlrecht erfolgreich Gebrauch (ungültige Stimmen abgezogen). Es sind also 27 Prozent all jener, die hier leben und arbeiten.
Kann man daraus schliessen: Nichtwählende haben entschieden? Natürlich nicht, doch es mag da und dort doch zu denken geben.
Bleibende Eindrücke nach den Wahlen, erfolgversprechende und zweifelnde
Erfolgreich mobilisieren konnten jene Parteien, die
- Sicherheit sowie Lösungen und Trost für persönliche Sorgen versprachen,
- Hoffnung statt Angst verbreiteten,
- Wärme und Emotionen aufbauen konnten,
- gelobten, sich für das Bewahren, Erhalten, Verteidigen nationaler Werte einzusetzen,
- auf das Bauchgefühl zielten, explizit nicht auf den Verstand,
- suggerierten, erfolgreich abschirmen zu können gegen die Realität der hässlichen Welt,
- vor der überbordenden Einwanderung warnten («10 Mio. Schweiz, wollt ihr das?»),
- gegen andere Parteien polarisierten und polemisierten,
- für faire Steuern und sinkende Krankenkassenkosten zu kämpfen versprachen.
Ich überlasse es den Leserinnen und Lesern, für sich selbst zu beurteilen, welche von diesen «Erfolgsrezepten» für die positive Entwicklung der Schweizer Politik taugen könnten.
Eher erfolglos blieben Parteien, die
- schlecht mobilisieren konnten,
- für ökologische Werte und Ziele plädierten oder im Gegenteil für freie Märkte und Grenzen eintraten,
- den Liberalismus ganz generell verteidigten,
- vom Volk harte Arbeit und Engagement forderten,
- über einen tiefen Frauenanteil verfügen,
- für mehr Wettbewerb, Eigenverantwortung und Schutz des Eigentums und der freiheitlichen Werte eintraten,
- überaltert wirken und für eine schlechte Parteipolitik in der Vergangenheit bezahlen mussten (z. B. CS-Debakel).
Forderungen dominierten in der Wahlpropaganda
Unübersehbar ist im Nachhinein ein Trend: Forderungen an den Staat. Zwei Beispiele: Bei der SP dominieren jene für tiefere Mieten, tiefere Krankenkassenprämien, höhere Renten (inkl. 13. AHV-Rente) und billigere Kita-Tarife. Wer das bezahlen soll? Der Staat und die Spekulanten.
Die SVP fordert die Einschränkung der Zuwanderung, nötigenfalls Kündigung der Bilateralen mit der EU. Wer dafür sorgen soll? Die Politik. Wer Problemlösungsvorschläge sucht, wird nicht fündig. Davon, dass 69 Prozent des schweizerischen Exports in die EU gehen, ist nicht die Rede.
Wohin treibt das Land?
Vereinfachend, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, waren jene Parteien erfolglos, die uns Menschen aufrütteln wollen, die für Veränderungen kämpfen, für Eigenleistung und offenen Blick über die Grenzen, in die Zukunft gerichtet. Offensichtlich ist das aber nicht das Interesse vieler Menschen, die in Ruhe gelassen werden wollen.
Erfolgreich dagegen waren jene Kampagnengestalter, die versprachen, Bewahrung des Erkämpften, ja Abschottung nach aussen, zu garantieren. Den Blick nach innen gerichtet – rückwärts. «Gülle gewinnt gegen Geld», resümierte die NZZ im November 2023. Tatsächlich wird der Einfluss der Bauern(-Lobby) im Parlament noch grösser. Ein Resultat des fragwürdigen, wahltaktischen Zusammengehens von Economiesuisse und Schweizerischem Bauernverband (SBV). Offensichtlich profitierte davon die SVP (zur Erinnerung: vor 1971 hiess die Partei ja Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei …).
Was wollen Schweizerinnen und Schweizer eigentlich?
Die Frage drängt sich auf. Das Abstimmungsresultat der National- und Ständeratswahlen stärkt den Einfluss der Bauernlobby im Bundeshaus, deren Fokus nach innen gerichtet ist, klar für Abschottung gegen aussen. Für die Existenzsicherung der Landwirtschaft gibt die Schweiz schon heute jährlich Milliarden aus, zu berappen durch die Steuerzahlenden, auch jene, die für diesen Trend gestimmt haben.
Dies widerspricht klar den Absichten unserer Exportwirtschaft, die sich z. B. für die Öffnung des Agrarmarktes stark macht. Der Wohlstand der Schweiz wird getragen von den Exporten, wovon zwei Drittel in die EU-Länder fliessen. In Zahlen des BIP (Bruttoinlandproduktes) betragen die relevanten Anteile:
- Handel und Dienstleistungen 73,8%
- Industrie und Bau 25,5%
- Landwirtschaft 0,7%
Realisieren Schweizerinnen und Schweizer im Zeitalter von Informationstechnologie, Künstlicher Intelligenz und Globalisierung den steigenden Anspruchswiderspruch zwischen zukunftsfokussierten Branchen und vergangenheitsorientierter Landwirtschaft?
Die SP-Fraktion entscheidet de facto über die Bundesratswahl
Der Wahlherbst ging mit der Bundesratswahl vom 13. Dezember zu Ende. «Die Vereinigte Bundesversammlung wählt den Bundesrat», heisst es auf dem Papier. Theoretisch war das wohl so, doch de facto spurte der Ticket-Entscheid der SP-Fraktion das Wahlergebnis vor. Der neue Bundesrat heisst somit Beat Jans. Ein schaler Geschmack mag da und dort in der Bevölkerung zurückbleiben: Der Eindruck, allen Parteien sei ihr eigenes Wohlergehen, ihr eigener Machtanspruch und entsprechendes Taktieren viel wichtiger als eine offene, faire Wahl.