Richtig ist die Feststellung, dass man es beim Problemfeld unkontrollierte Migration mit einem überaus schwierigen, komplizierten und verstörenden Thema zu tun hat, für dessen Lösung bisher trotz uferlosen Debatten kein Politiker (und auch kein Journalist, Soziologe oder sonstiger Experte) allgemein überzeugende Lösungen anzubieten hatte. Soweit ist dem Schriftsteller Charles Lewinsky zuzustimmen, der unlängst zur begrifflichen Auseinandersetzung mit dem aktuellen Migrationsthema einen langen Beitrag in der NZZ beigesteuert hat.
Lewinsky argumentiert, die Ausdrücke Migrant und Migranten seien zwar durchaus neutrale Begriffe, die allerdings verschiedene Arten von Wanderbewegungen betreffen könnten. Dazu zählt auch die legal mit Pass- und Arbeitserlaubnis stattfindende Migration von Fach- oder Hilfskräften, die man im deutschen Sprachgebrauch korrekt als Zuwanderung oder Immigration beschreibt.
Der Autor setzt sich aber hauptsächlich und mit guten Gründen mit der Migration aus Afrika auseinander, wo doppelt so viele Menschen leben wie in Europa und die Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Leuten 75 Prozent, in Deutschland aber nur gerade 5 Prozent ausmache. Wenn man all diese gewaltigen Ungleichheiten in Rechnung ziehe, komme man schnell zu der Erkenntnis, dass da eine Völkerwanderung im Gang sei.
Dieser zutreffende Begriff, meint Lewinski, werde hierzulande aber tunlichst verschwiegen. Man spreche – je nach politischem Standpunkt – lieber von einer «kriminellen Invasion» oder von einer «Verjüngung des alternden Kontinents» Europa.
Mit Verlaub, da scheint begrifflich einiges durcheinander zu geraten. Laut Wikipedia und dem Historischen Lexikon der Schweiz sind mit dem Ausdruck Völkerwanderung gemeinhin «die Wanderbewegungen germanischer und anderer Völker» gemeint, die «zwischen dem Ende des 2. und 7. Jahrhunderts Zivilisationen und Machtzentren erschütterten». Und selbst wenn man diesen Bezug ignoriert, bleibt das Wort Völkerwanderung kaum tauglich für die Beschreibung von Bootsflüchtlingen auf dem Mittelmeer.
A propos Flüchtlinge. Laut Lewinsky wird dieses Wort in manchen politisch korrekten Milieus eher gemieden, weil es gleichzeitig «die Aufforderung zu Hilfs- und Aufnahmebereitschaft konnotiere». Ein kurzer Test bei Google lässt indessen an dieser Behauptung starke Zweifel aufkommen.
In den wichtigen Schweizer Medien kann von einer Tabuisierung des Begriffs «Flüchtling» keine Rede sein. Man stösst in den verschiedensten und meist höchst aktuellen Zusammenhängen auf dieses Wort etwa bei der deutschen «Flüchtlingskrise» 2015, bei den Berichten über die häufigen «Flüchtlingstragödien» im Mittelmeer oder dem «Flüchtlingsdrama» vom vergangenen Oktober in England, bei dem 39 Menschen aus Vietnam erstickt oder erfroren sind.
Wo bei diesen konkreten Fällen «Tarn- oder Deckworte» verwendet werden, wie der Autor Lewinsky behauptet, um die Realitäten beim schwierigen Migrationsthema zu camouflieren, bleibt bei näherer Prüfung ziemlich schleierhaft.
Gewiss sind bei dem weitläufigen und dornenvollen Thema Migration auch Verdrängungen und Halbwahrheiten im Schwange. Solche Defizite haben aber weniger mit der Vermeidung oder Manipulation bestimmter Wörter zu tun, als vielmehr mit der Tendenz, sich mit den Wurzeln und den Dimensionen des Problems gründlicher auseinanderzusetzen.