Doch in Wirklichkeit ist es unmöglich, die libysche Zivilbevölkerung vor Ghadhafi zu schützen, solange er an der Macht bleibt, selbst wenn er nur noch über Teile Libyens herrscht.
Vierzig Jahre der Machtausübung Ghadhafis machen dies sonnenklar: Er wird blutige Rache nehmen an allen Libyern, die sich seinen Wünschen und Herrschaftsgelüsten entgegenstellten oder entgegenstellen, solange er an der Macht bleibt. Der Umstand, dass er behauptet, die Libyer folgten ihm gerne, weil sie ihn "liebten", ändert nichts daran, dass er während seiner gesamten Herrschaftszeit grausame Machtmittel angewandt hat, um die Libyer zum Gehorsam zu zwingen.
Dass er dies auch in der Zukunft tun wird, solange er über die dazu notwendigen Machtmittel verfügt, steht ausser Zweifel. Gerade die Tatsache, dass er selbst sich weigert, seine Tyrannei in der Vergangenheit zuzugeben, beweist, dass er sich auch in der Zukunft, solange er über die Mittel dazu verfügt, gleich wie bisher verhalten wird.
Die Libyer sollen sich selbst befreien
Wenn die Nato-Kräfte der Meinung sind, ihr Ziel sei es nicht, Ghadhafi abzusetzen, kann dies in der Praxis nur heissen, die Libyer selbst müssten es tun. Wenn es nicht gelingen sollte, und Libyen zum Beispiel geteilt würde, etwa durch einen Waffenstillstand zwischen einem von Ghadhafi beherrschten Tripolitanien und einer Cyrenaika in der Hand der libyschen Volksbewegung, würde dies die Konfrontation nur in die Länge ziehen. Das wäre für Libyen und für die Nato gleichermassen fatal, denn das hätte einen langen Bürgerkrieg zur Folge.
Begleitet würde dieser Bürgerkrieg von einem mehr oder weniger brüchigen Waffenstilstand mit Uno-Blauhelmen wie in Kaschmir seit 63 Jahren. Oder es liefe wie bei den palästinensisch-israelischen Konfrontationen seit gleich langer Zeit, wobei die UNRWA, United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, den Menschen dauerhaft das Lebensnotwendigste zu Verfügung stellt.
Ganz abgesehen davon, dass die Sicherheitsratsresolution auch davon spricht, dass Libyen als ein unitärer Staat erhalten bleiben müsse. Müsste die UNO im Fall eines Waffenstillstands ihre Flugverbotszone über dem geteilten Libyen in alle offene Zukunft hinaus aufrecht erhalten?
Die beschränkten Mittel der Volksbewegung
Doch was ist, wenn die Libyer selbst Ghadhafi absetzen sollen und die Volksbewegung von Benghazi nicht über die dazu notwendige Feuerkraft und militärische Organisation verfügt? Soll ihr die Nato dann helfen? Und wie soll sie helfen, bloss defensiv, das heisst, wenn die Volkskräfte in der Gefahr sind, von den schweren Waffen Ghadhafis überwältigt zu werden? Das war bis vor wenigen Tagen vor Benghazi der Fall. Erst die Intervention der UNO hat die Lage verändert.
Oder soll die westliche Allianz offensiv auftreten, indem die Uno-Flugzeuge praktisch als die Luftwaffe der Volkskräfte agieren und es ihnen dadurch ermöglichen, erfolgreich gegen die Streitkräfte Ghadhafis vorzugehen? Dies geschah in den letzten Tagen, als die Volkskräfte die Städte Ajdabiya und Ras Lanuf einnahmen und auf Sirte hin vormarschierten.
Verderbliche Folgen der Teilung
Im Falle eines bloss defensiven Einschreitens zu Gunsten der Volkskräfte würde der Krieg unvermeidlich verlängert. Er müsste dann auf längere Frist hin angelegt werden. Die Volkskräfte könnten leicht ein Jahr brauchen, um sich wirksam gegen Ghadhafis reguläre Armee zuorganisieren. Und die Frage des Waffenembargos käme dazu.
Dieses gilt, nach Aussagen der Nato-Verantwortlichen für ganz Libyen, und offiziell könnten daher weder die Nato Staaten noch die übrige Welt die Volkskräfte mit Waffen versorgen. Waffenschmuggel, möglicherweise unter den Augen der Nato, wäre fast unvermeidlich.
Wie wäre es mit den libyschen Erdölexporten? Würde jede Seite ihr eigenes Erdöl zu vermarkten suchen? Wenn ja, mit oder ohne Zustimmung der Nato-Mächte, oder auch mit zugedrückten Augen von einigen Nato-Käufern? Ein verlängerter Krieg in Libyen, von dem niemand sagen könnte, wann und wie genau er zu Ende geht, würde ein Krebsgeschwür am Mittelmeer werden, das schwelt und sich in weite Bereiche ausbreiten kann.
Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn die Volkskräfte mit Waffen, die mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl bezahlt würden, Russland veranlassen würden, nun Ghadhafi mit Waffen zu versorgen, wie wiederum mit seinen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft finaziert würden. Das könnte offiziell oder heimlich geschehen. Weiter: Die Nato könnte es sich schwerlich erlauben, einfach auszuscheiden und Libyen seinem Schicksal zu überlassen. Oder doch? - Der libysche Bürgerkrieg würde in mancher Hinsicht an den spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 erinnern.
Der Abgang ist eine Notwendigkeit
Kurz und gut, eine Zweiteilung Libyens wäre eine Tragödie für alle Beteiligten mit dem Potential, eine Langzeittragödie zu werden. Dies wäre das letzte, was die finanziell maroden Staaten des Westens sich selbst und den Libyern antuen wollten. Daher ist der Abgang Ghadhafis, so schnell wie möglich, eine politische Notwendigkeit. Das gilt, obwohl man fragen kann, ob und in wieweit die Uno-Resolution ein offensives Vorgehen der Uno gegen Ghadhafi im Zeichen der noch recht chaotischen Volksbewegung voll abdeckt. Aber ohne dieses Vorgehen zu Gunsten einer Volksoffensive gegen Ghadhafi wird es de facto eine Zweiteilung Libyens geben. Eine solche Scheinlösung wäre schon auf mittlere Frist ein permanentes, in seinen Auswirkungen unabsehbares Unglück für alle Beteiligten, das es unbedingt zu vermeiden gilt.