Nur sehr wenige werden dem Assad-Regime, sollte es unter dem Zangengriff oppositioneller Kräfte aus dem Norden (Aleppo, Hama, Homs) und dem Süden (Deraa an der Grenze zu Jordanien) stürzen, eine Träne nachweinen. «Wenige» heisst: die Günstlinge aus dem Kern des Regimes selbst, die dreizehn Jahre lang von der Diktatur profitiert haben.
Bei der Mehrheit der etwa 22 Millionen Syrerinnen und Syrern dürfte sich allerdings wenigstens provisorische Erleichterung ausbreiten. Provisorisch weshalb? Weil ungewiss ist, was die Kämpfer von Hayat Tahrir al-Sham nach einem allfälligen Sieg über das Regime mit dem Land und seinen Menschen vorhaben. Klar ist derzeit: Es ist eine islamistische Truppe, die sich in der Vergangenheit ebenso radikal verhalten hat wie etwa al-Qaida (aus der sie auch hervorgegangen ist) und fast so extrem wie der so genannte Islamische Staat. Der Anführer von Hayat nennt sich jetzt zwar, um seinen Gesinnungswandel zu beweisen, nicht mehr Abu Mohammed al-Julani, sondern, sozusagen bürgerlich, Ahmed al-Sharaa, aber ob mit der Namensänderung auch eine Änderung der Ideologie einhergeht, ist fraglich. In ihrem Kern-Machtgebiet, der Region Idlib im Norden Syriens, hat sich Hayat Tahrir al-Sham jedenfalls eher durch Macht-Willkür als durch Toleranz ausgezeichnet.
Syrien war während der vergangenen dreizehn Jahre Schauplatz eines vielschichtigen Konflikts. Die westliche Perspektive sah ihn fast ausschliesslich als einen internen Krieg zwischen einem brutalen Regime und einer demokratisch gesinnten Opposition – und verkannte, dass die Gegnerschaft zu Assad schon etwa ab 2014 zu rund 70 Prozent aus islamistischen Extremisten bestand (das recherchierten, unabhängig voneinander, je ein französischer und ein US-amerikanischer Think-Tank), dazu aus etwa 20 Prozent Kurden. Das heisst, für die «wahren» Demokraten verblieben gerade noch zehn Prozent – aber sie allein waren es, mit denen die westlichen Regierungen dialogisierten, wenn man sich für so genannte Friedenskonferenzen zu Syrien traf. Kein Wunder, dass dabei nie etwas Konkretes herauskam.
Israel ist auf jedes Szenario vorbereitet
Ob sich das inner-syrische Machtgefüge nun so fundamental geändert hat, dass man auf eine Demokratisierung des Landes hoffen darf, ist fraglich. Viel mehr spricht dafür, dass sich, nach einem allfälligen Sturz des Assad-Regimes, islamistische Extremisten gegenseitig bekämpfen werden – unterstützt von regionalen Mächten, die auf syrischem Territorium ihre eigenen Ziele etwa so verfolgen wollen, wie sie das in den letzten dreizehn Jahren getan haben: Die Türkei will einen Cordon sanitaire im Norden des Landes, um die Kurden zu kontrollieren; Saudi-Arabien will den Einfluss von Moslembrüdern begrenzen; Iran wird sich um konstruktive Kontakte mit irgendeinem Regime in Damaskus bemühen (um den Transportkorridor zum Hisbollah in Libanon aufrecht zu erhalten) – und Russland, neben Iran die bisherige Schutzmacht Assads, wird sich den Anschein geben, dass Syrien für die Strategie Putins eben doch nicht sehr wichtig sei. Und was Israel betrifft: Die Regierung von Premier Netanjahu hat bereits geäussert, sie sei auf jedes denkbare Szenario in Damaskus vorbereitet, was im Klartext wohl nicht weniger bedeutet als die Bereitschaft, auf syrischem Territorium notfalls eine weitere Kriegsfront zu eröffnen.
Alles keine rosigen Aussichten, schon gar nicht für die Zivilgesellschaft Syriens. Gemäss Angaben von humanitären Organisationen sind derzeit rund 80 Prozent der Menschen auf Lebensmittelhilfe angewiesen, rund 6 Millionen sind im Land intern zu Flüchtlingen geworden, 5 Millionen flüchteten ins Ausland (davon mehr als 3 Millionen in die Türkei). Ob und unter welchen Bedingungen sie zurückkehren, ist offen – das, was während des Kriegs in Syrien zerstört wurde, bleibt wohl noch für lange Zeit zerstört. Denn Hilfe kommt nur in beschränktem Umfang ins Land. Daran änderten auch die diversen Geberkonferenzen für Syrien (die letzte fand im Mai statt, bei der den Notleidenden Hilfe im Umfang von 7,5 Milliarden Euro versprochen wurde) nichts Wesentliches, denn den Hilfszusagen für Nahrungsmittel und Medikamente stehen die vom Westen verhängten so genannten Caesar-Sanktionen (Caesar Syria Civilian Protection Act of 2019, erfunden von der US-amerikanischen Trump-Regierung) entgegen. Sie verbieten Investitionen u. a. in den Bausektor, was konkret bedeutet, dass keine Firma, auch keine ausländische, sich am Wiederaufbau des im Krieg Zerstörten beteiligen darf. Diese Sanktionen zu befolgen hat sich auch die Schweiz verpflichtet. Und so lange in Syrien nichts wieder aufgebaut wird, so lange wird sich wohl auch kaum ein Flüchtling aus dem Ausland zur Rückkehr entscheiden.