Es gibt eine ganze Reihe von Opern, die den Prozess künstlerischer Inspiration zum heimlichen Thema haben. Hans Pfitzners «Palestrina» ist eines dieser Werke. Es ist auch entschieden bedeutsamer als die dubiose Persönlichkeit seines Erschaffers.
Vor allem seit der Romantik wollen Künstler begreifen, wie es zu glücklichen Einfällen und rettenden Lösungen im Kompositionsverlauf kommt. Exemplarisch für solche «Inspirationsopern», in denen es um die «zündende Idee» für künstlerische Lösungen geht, die schliesslich das ganze Werk durchpulsen und befeuern, sind Berlioz’ «Benvenuto Cellini» (1838), Wagners «Die Meistersinger von Nürnberg» (1868) und Hans Pfitzners «Palestrina» (1917). Man könnte in erweitertem Sinn auch Jacques Offenbachs «Hoffmanns Erzählungen» (1881), Paul Hindemiths «Mathis der Maler» (1938) oder die letzte Oper von Richard Strauss, «Capriccio» (1942), dazu zählen.
Natürlich brauchen nicht nur Komponisten glückliche Einfälle und eine beflügelnde Phantasie, um überzeugende Werke zu schaffen. Es gilt dies für Vertreterinnen und Vertreter aller Künste und Ausdrucksformen, wollen sie als stilistisch unverwechselbare Individuen wahrgenommen werden. Inspiration hat wohl viel mit Einbildungskraft, mit Wagemut, aber auch mit Begegnungsglück zu tun, mit allerlei Sorten von «Stimuli», von Ansporn und von Reizen, die sowohl aus der äusseren Umgebung wie aus den eigenen Obsessionen und Waghalsigkeiten stammen können.
Schaffenskrisen
Dass Künstlerinnen und Künstler in Schaffenskrisen geraten, in denen die Phantasie nicht sprudeln will, sondern stockt und hemmt, ist für viele eine mit dem Künstlertum geradezu existentiell verbundene Daseinsbedingung. Gerade nach dem erfolgreichen Abschluss kühn leuchtender Werke, kann eine Phase der Leere, des Ausgelaugtseins, ja der Energie- und Lustlosigkeit einsetzen und zu depressiven Intermezzi oder selbstzweiflerischer Tatenlosigkeit führen. Inzwischen weiss man aus vielen Künstlerbiographien, dass solche schwierigen Inkubationsphasen, in denen nichts zu gelingen scheint, zu den Schaffenszyklen auch von hochbegabten Menschen gehören.
Für die meisten Betroffenen sind solche toten Punkte im kreativen Leben ein leidvoller Gang durch ein Purgatorium, an dessen Ausgang nicht immer ein Paradies wartet. Dennoch erheben sich erstaunlich viele in den Künsten tätige Menschen nach solchen Krisen wie der Phönix aus der Asche und treten nun beherzt bisher unbegangene Wege an.
Früher nannte man diese Stadien im Regenerationsverlauf «Brachzeiten», ökonomisch nennt man sie heute «Betriebsmittelzeiten», jene Phasen also, in denen nicht die Produktion im Zentrum steht, sondern die Wiederherstellung und Erneuerung jener Voraussetzungen, die den «Betrieb» bald wieder ermöglichen sollen. Offenbar gehören gerade Kreativität und Einbildungskraft zu jenen Ressourcen, die in gewissen Lebensphasen brachliegen dürfen.
Der Fall Palestrina
Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca. 1525-1594) ist so etwas wie der Grossmeister der Polyphonie für den vatikanischen Kirchengebrauch. Die Familie mit Namen Pierluigi war vom nahegelegenen Palestrina nach Rom gezogen, wo Giovanni seine Ausbildung als Sänger, Organist und Kirchenkomponist erhielt. Unbestritten ist, dass er während und nach der Zeit des Konzils von Trient (1545-1563) zum stilbildenden Komponisten der päpstlichen Kurie wurde als Vorsteher verschiedener Chöre der Hauptkirchen Roms, sogar der Cappella Giulia der Peterskirche, und dies obwohl Palestrina kein Priester war und Frau und Kinder hatte.
Seine moderne komplette Werkausgabe besteht aus 35 grossen Bänden und umfasst vier- bis sechsstimmige Messen, zahlreiche Magnificat-Vertonungen, Responsorien, Psalmen, Litaneien, Lamentationen, Hymnen, Motetten. Selbst vielstimmige weltliche Madrigale gehören dazu. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die «Missa Papae Marcelli» – Ausdruck einer klarlinigen Polyphonie, die trotz kunstvoller Vielstimmigkeit die dogmatischen Kernsätze des Messetextes einprägsam und verständlich hält und jegliche Art von «l’art pour l’art-Eskapaden» manieristischer Komponisten in die musikalischen Schranken verordneter Textverständlichkeit einweist.
Zu den Zielen des Konzils von Trient gehörte nämlich auch eine Reform des Kirchengesangs. Besonders radikal-asketische Päpste wollten nach den Exzessen der Hochrenaissance die kirchenmusikalische Entwicklung zurückschrauben, um wieder dem einstimmigen gregorianischen Gesang des Mittelalters den Vorzug einzuräumen. Dagegen wehrten sich verständlicherweise die kunstsinnigen Meister der Polyphonie. Die Legende will nun, dass Palestrina vom Mailänder Kardinal Carlo Borromeo beauftragt worden sei, eine «Modellmesse» für tolerierbare Mehrstimmigkeit in der katholischen Liturgie zu komponieren.
Historisches Faktum ist, dass Palestrinas Kompositionsstil im Lauf des 17. und des 18. Jahrhunderts sich über das ganze katholische Europa verbreitete. Selbst Johann Sebastian Bach bearbeitete Werke des Polyphonie-Meisters aus Rom für eigene musikalische Zwecke in Leipzig. Bis in die Zeit der Wiener Klassik hinein war die kontrapunktisch orientierte Kompositionskunst von Palestrina für Musiker wie Mozart, Beethoven und Schubert modellhaft wirksam. So begreift man, dass Werke von Palestrina bis heute vom Knaben- und Männerchor des Vatikans, der sogenannten «Cappella Pontificia Sistina», in besonderer Weise gepflegt werden.
Der Fall Hans Pfitzner
Der spätromantisch-deutschnationale Komponist Hans Pfitzner (1869–1949) hat die Thematik der Errettung der Kirchenmusik durch den Künstler Palestrina aufgegriffen und in grosser Freiheit gegenüber den historischen Fakten selbst ein Libretto verfasst zu einer Oper, die er «Palestrina, Musikalische Legende in drei Akten» nannte. Der Text entstand noch vor dem Ersten Weltkrieg, zwischen 1909 und 1912, danach begann Pfitzner mit der Komposition, die er 1915 abschloss.
Die Uraufführung des monumentalen Werks fand 1917 im Prinzregententheater in München unter der Leitung von Bruno Walter statt. Thomas Mann sass damals im Theater und setzte sich danach enthusiastisch für den Komponisten und sein Werk ein. Bald einmal musste er jedoch einsehen, dass er da für einen verblendeten Nationalisten, Antisemiten und später ungehemmt offenen Hitlerverehrer die Trommel geschlagen hatte.
Pfitzner sah und empfand sich als den Spätgeborenen einer poetisch-romantischen Epoche, in welcher er als Künstler nun aufgrund der zeitbedingten Entwicklungen, Avantgarden und modernen Provokationen – Expressionimus, Futurismus, Konstruktivismus, Surrealismus, Zwölftonmusik und dergleichen Unvertrautem – in Resignation und Aussichtslosigkeit fallen musste.
So machte Pfitzner aus dem historischen Palestrina ein alter ego, seinen konservativen Stellvertreter in einer Lebenskrise. Zwar immer noch ein Meister seines Fachs, doch einer, der erkennt, dass seine Kunst durch eine neue, von ihm künstlerisch als minderwertig betrachtete, ersetzt wird. Bei Palestrina war es die Ablösung der Polyphonie aus Rom durch monodische Madrigale und Frühformen dramatischer Musikkunst aus Florenz und später durch Monteverdi. Bei Pfitzner waren es vor allem der Vormarsch serieller Musik – die zweite Wiener Schule unter Schönbergs Führung war bereits unterwegs – und auch die von Erfolg gekrönten Einflüsse «fremder» Elemente wie etwa der amerikanischen Unterhaltungsmusik, die sein Selbstverständnis als Musiker erschütterten.
Es kommt aber vor, dass ein Kunstwerk sich als viel bedeutsamer erweist, als es der Charakter, die Verbissenheit und die ideologischen Verirrungen des für das Werk verantwortlichen Künstlers sind. Einen solchen Fall haben wir mit Pfltzners Oper «Palestrina» eindeutig vor uns.
Die Inspirationsquellen
Der erste und der dritte Akt der Oper spielen in Palestrinas Wohnung in seinem römischen Zuhause im Jahr 1563, der zweite ist eine Parodie auf das Tridentiner Konzil und den Streit zwischen nationalen Fraktionen unter Kardinälen, wobei es um religiöse und politische Vormacht zwischen Papst und Kaiser und deren jeweiliger Anhängerschaft geht. Ein ziemlich geniales musikalisches Tohuwabohu, voll von böswilligen gegenseitigen Intrigen, unverzeihbaren Eitelkeiten und Machtansprüchen, das schliesslich in einem Kugelhagel zwischen sogenannten Brüdern in Christo endet.
Diese moderne Künstlerkritik an der Einrichtung der damaligen Weltverhältnisse, so grossartig Pfitzner sie musikalisch gestaltet hat, lassen wir hier beiseite, um uns seiner Inspirationstheorie des ersten Aktes zuzuwenden, die etwas sehr Bemerkenswertes an sich hat. Was Pfitzners Palestrina aus seiner künstlerischen Verzweiflung herausholt, ist dreifacher Natur: Die Erinnerung an die grossen Vorgänger, hier konkret die alten Meister der flämisch-niederländischen Polyphonie, die in seinem Arbeitszimmer erscheinen und ihn daran erinnern, dass er noch der Menschheit etwas schulde, bis er die neue Missa geschrieben habe. Dann erscheint bei ihm seine geliebte verstorbene Ehefrau Lukretia, welche ihm die alles lebendig machende Kraft erotischer Liebe als Schaffenskraft ins Lebensgefühl zurückbringt. Schliesslich sieht und hört er in seiner Vision noch einen vom Himmel herabsteigenden Engelschor, der eine überirdische Himmelsmacht als den Urgrund künstlerischer Kraft und Inspiration preist. Tradition, Erotik und Transzendenz: Die drei wichtigsten Inspirationsquellen für die Kunst? Nachdenkenswürdig, selbst wenn sie ein überzeugter Hitlerverehrer so sah.
Palestrina schafft die neue Herausforderung und die Vollendung der von ihm geforderten Missa. Im dritten Akt besucht der Papst höchstpersönlich den Meister in seiner römischen Arbeitswohnung und zollt dem Künstler Tribut für sein Können. Doch Palestrina entzieht sich dem öffentlichen Ruhm. Während die Mächtigen der Welt, sein Sohn Ighino miteingeschlossen, ihn feiern, bleibt er als einsamer Künstler allein in seiner Klause zurück. Er improvisiert und träumt an seiner Hausorgel, Themen seines Werkes variierend, leise vor sich hin.
«Der letzte Freund»
Hier ist eine Szene aus dem 1. Akt ausgewählt, die man als Selbstoffenbarung, ja als Selbstbespiegelung des sogar mit der Frage des Selbstmords ringenden Künstlers ansehen kann. Nachdem der ihm wohlgesinnte Kardinal Borromeo zornig sich von dem an seinen eigenen Kräften und an der Existenz Gottes zweifelnden Palestrina verabschiedet hat, um nach Trient zum Konzil zu eilen, besinnt sich der Künstler: Jetzt verliere er auch noch seinen besten Förderer und Freund! Die Menschen seien sich fremd und unbekannt. Das Innerste der Welt sei Einsamkeit. Es ist die dunkelste Stunde der Selbstzweifel, ja der Verzweiflung eines Künstlers. Wie konnte er je sich des Lebens und der Liebe überhaupt freuen? Alles, was er bisher tat und vollbrachte, mündet für den mit sich und mit Gott und der Welt hadernden Künstler in die Frage: «Wozu das alles? – Ach wozu? – Wozu?»
Natürlich hat dies alles weniger mit dem historischen Palestrina und seiner Musik als mit der Befindlichkeit eines Künstlers zu Zeiten Pfitzners zu tun. Doch ist dies dadurch für uns Heutige weniger bedeutsam?
Grosse lyrische Tenöre haben seit der Uraufführung von Pfitzners «Palestrina» die Rolle des vereinsamten und an der Welt beinah zerbrechenden Künstlers gern gesungen und dargestellt. Hier hören wir den unvergleichlichen Fritz Wunderlich in «Der letzte Freund», begleitet vom Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Robert Heger, aufgenommen am 16. Dezember 1964.