Die Ukraine dürfe den Krieg nicht «verlieren», hiess es ursprünglich. Mehr und mehr wurde dann davon gesprochen, dass sie ihn «gewinnen» müsse. Auf dem Nato-Treffen in Brüssel am 3. April 2024 schlug Generalsekretär Jens Stoltenberg dafür ein direktes Engagement der Nato in der Höhe von 100 Milliarden Euro vor.
Bisher hat es die Nato vermieden, sich in dieser direkten Weise zu engagieren. Jetzt ist die Not so gross, dass ihr wohl nichts anderes übrig bleibt – zumal nach den Präsidentenwahlen in den USA ihre gesamte Sicherheitsarchitektur zerstört werden könnte.
Auf dem Nato-Treffen in Brüssel wollte der estnische Aussenminister Margus Tsahkna den von Stoltenberg anvisierten Betrag noch erhöhen: Wenn jedes Mitgliedsland 0,25 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Kiew aufwende, wären das 120 Milliarden Euro im Jahr, rechnete Margus Tsahkna vor – «genug Geld, damit die Ukraine den Krieg gewinnen kann».
Was soll und kann es heissen, dass die Ukraine den Krieg «gewinnen» kann? Defensiver hiess es bei seinem Ausbruch am 24. Februar 2022, dass sie ihn nicht «verlieren» dürfe. Beide Ausdrücke wecken Assoziationen an ein Spiel oder eine Wette, die man gewinnen oder verlieren kann. Wer sich darauf einlässt, hatte die Wahl, das nicht zu tun.
Diese Wahl hatte die Ukraine nicht, und deshalb wäre es sachgemässer von «Selbstbehauptung» und dem drohenden «Untergang» zu sprechen. Und mit dem Untergang der Ukraine wäre auch der Westen bedroht, weil für Putin dieser Untergang ein «Sieg» wäre, der ihn dazu motivieren kann, seine Wetten gegen den Westen fortzusetzen.
Das Dilemma des Westens
Putin hat eine klare Strategie, der Westen nicht. Denn der Westen kann nicht im Ernst glauben, Putin in einer Weise besiegen zu können wie einst Adolf Hitler. Keiner hat die Vorstellung, Putins Regime von der Weltbühne zu fegen. Zumal jeder wüsste, dass die kleinen Putins danach noch weit mehr Angst und Schrecken verbreiten würden. Russland ist weder besieg- noch sanierbar.
Der Westen beisst sich daran die Zähne aus. Und er stösst an seine intellektuellen Grenzen. Da erscheinen Abkürzungen attraktiv. Die finden Fürsprecher wie den Fraktionschef der SPD, Rolf Mützenich. Der schlug ein «Einfrieren» des Krieges vor, was insofern verständlich ist, als keiner der anderen Politiker einen brillanten Plan hat. Warum nicht einfach «einfrieren»? Um es zuzuspitzen: Auf die intellektuellen Defizite der Parole «Sieg» und der Parole «nicht gewinnen» setzt Mützenich die Idee eines «Einfrierens», was an Tiefkühler erinnert, die technisches Können und Souveränität darstellen. Warum also nicht?
Mit Recht wird aber daran erinnert, dass mit dem «Einfrieren» alle Verbrechen ungesühnt blieben und sich Täter und Opfer weiterhin unmittelbar gegenüber stehen. Das Einfrieren schlüge zugunsten des Aggressors aus. Aber die Frage muss doch sein, ob es einen anderen Ausweg gibt.
Historiker und Politikwissenschaftler machen diesbezüglich wenig Hoffnung. Denn sie erkennen in dem gegenwärtigen Desaster ein nur zu bekanntes Muster. So schreibt Herfried Münkler, dass Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – «Die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» ( Wladimir Putin) – einige regionale Rechnungen offen hat. Im Gegensatz zur früheren Sowjetunion ist Russland kein «saturierter Staat» mehr. Russland möchte Gebiete zurückhaben.
Und, auch darauf weist Münkler hin, Putin fürchtet nichts so sehr wie eine freie und prosperierende Gesellschaft an der Westgrenze von Russland. Als Geheimdienstler in Dresden hatte Putin schliesslich erlebt, wie gross die Sogwirkung westlichen Lebensstils mit den Verführungen des Konsums sind. Das ist für ihn eine wesentlich grössere Bedrohung als die angebliche Nato-Osterweiterung, die er aus propagandistischen Motiven beschwört.
In Anbetracht dessen gibt es nichts, was der Westen Russland anbieten könnte, um wieder zu einem friedlichen Auskommen zurückzufinden. Diese Konfliktlösung ist derzeit nicht in Sicht. Und so wird der Krieg zwar nicht «eingefroren», aber auf möglichst niedriger Temperatur weitergeführt werden. Wobei der Westen zunehmend in die Schwierigkeit kommen wird, dafür bei den Wählern die notwendige Zustimmung zu finden. Hilfreich wäre es, diese mit der Aussicht auf einen «Sieg» zu motivieren. Die gibt es aber nicht. Im Grunde geht es nur darum, Zeit zu gewinnen, teuer erkaufte Zeit.