Was ist bloss in dieses Land gefahren? Genauer: In die Köpfe vieler seiner Bürger und genauso in die der so genannten Eliten. Da wird in Berlin allen Ernstes wegen einer im Grunde zweitrangigen Personalfrage eine Regierungskrise inszeniert und das Auseinanderbrechen der schwarz-roten Koalition riskiert.
Schliesslich, nach überlangem Hickhack, die glorreiche Rettungstat: Hans-Georg Massen, der durch eigene Schwatzhaftigkeit (oder war es der übersteigerte Drang zur Selbstdarstellung?) ins Schussfeld der SPD geratene bisherige Präsident des für die Inlandsaufklärung zuständigen Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), muss tatsächlich seinen Hut nehmen. Aber gleichzeitig wird er auch wieder befördert, nämlich auf einen Staatssekretärs-Sessel im von CSU-Chef Horst Seehofer geführten Bundesinnenministerium. Ein Rausschmiss mit goldenem Handschlag. Das verstehe, wer wolle!
Gleichzeitig grölende Horden
Und gleichzeitig marschieren grölende Horden durch deutsche Städte wie Chemnitz und Köthen, aus deren Reihen auch noch geradezu demonstrativ der Hitlergruss gezeigt wird! Genau solches möglichst schon im Vorfeld zu entdecken sowie die Gründe dafür und die Hintermänner aufzuklären, ist die originäre Aufgabe des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der entsprechenden Einrichtungen der Bundesländer. Dafür zu sorgen, ist die Pflicht der Amtsführung. Und nicht, via „Bild“-Zeitung der Bundeskanzlerin den verbalen Unterschied zwischen „Hetzjagd“ und „Jagdszenen“ zu erklären.
Das BfV ist schliesslich schon per definitionem gehalten, möglichst die öffentlichen Lautsprecher zu meiden und – stattdessen – aufzupassen, dass nicht unerkannt im Verborgenen gefährliche Sumpfblüten gedeihen.
Der Kanzlerin in die Parade gefahren
Massen ist ein lang gedienter, erfahrener Beamter. Und ganz bestimmt muss er gewusst haben, dass es für ihn nicht ohne Folgen bleiben kann, wenn er so der Bundeskanzlerin in die Parade fährt. Ohne Frage haben auch leitende Beamte das Recht (wenn nicht gar die Pflicht), in ihnen als ernst erscheinenden Situationen Bedenken oder gar Widerspruch bei Vorgesetzten anzumelden – und/oder, im zugespitzten Fall, zurückzutreten. Indessen ist weder das eine noch das andere erfolgt. Das legt zumindest den Verdacht nahe, dass hier ein abgekartetes Spiel im Gange war, an dem sich der Dienstherr des geschassten BfV-Präsidenten ordentlich mitbeteiligte. Und der heisst Horst Seehofer, mit der Amtsbezeichnung Bundesminister des Inneren.
In normalen Zeiten wäre eine solche „Affäre“ allenfalls dienstrechtlich behandelt worden. Dass sie jetzt hingegen zu einer veritablen Krise hochgejazzt wurde, in der mit der SPD ein Koalitionspartner ein Personalproblem sogar zu einem „Sein-oder-Nichtsein“ stilisiert, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Zustand des schwarz-roten (so genannten) Bündnisses.
Der fassungslose Zuschauer erlebt ein Schauspiel, in dessen Zentrum die verbale Frage nach „Hetzjagd“ oder „Jagdszene“ steht, während rechtspopulistische und nationalistisch-radikale Einpeitscher mit Symbolen und Parolen aus der Nazi-Zeit – von den Organen des Rechtsstaats mehr oder weniger unbehelligt – das Strassenbild beherrschen. Und das, nicht selten, auch noch mit Applaus von aussen begleitet wird!
„Alles nur Merkels Schuld“
Das alles, behaupten keineswegs nur die zum „Sturz des Systems“ angetretenen Polit-Rechtsaussen, sei allein die Folge der von Angela Merkel zu verantwortenden Flüchtlingspolitik. Sie sei schuld, dass die Bürger sich im eigenen Land nicht mehr daheim fühlten, der Islam sich ausbreite, die „Fremden“ Arbeitsplätze wegnähmen usw. usw. Natürlich können nur notorische Weggucker und -hörer bestreiten, dass sich mit dem Zustrom der hauptsächlich muslimischen Kriegs- und Hungerflüchtlinge und Asylsuchenden die Stimmung im Lande verändert hat. Und das ganz bestimmt nicht in Richtung Friedfertigkeit.
Aber dieser Hass, die Gewaltentschlossenheit, diese Rückgriffe auf Sprache und Methoden aus Deutschlands finsterster Zeit – das lässt sich nicht mit der Ankunft von „Anderen“ und auch nicht mit zweifellos von der Politik begangenen Fehlern und Versäumnissen erklären.
„Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ – diesen Satz von Bertold Brecht aus dem Epilog von „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ kennen wir seit rund fünfzig Jahren. Und vor allem die nach dem Krieg geborenen Generationen sind (zumindest die Älteren) sozialisiert und aufgewachsen mit dem fast wie einen Eid empfundenen Versprechen „Nie wieder!“ Hat das, angesichts der beschämenden Vorgänge auf den Strassen wie nicht selten auch in den Fussballstadien, tatsächlich noch die alte Gültigkeit?
„Nur ein starker Staat kann liberal sein!“ Erinnert sich noch jemand? Der Satz wurde geprägt vom Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) nach dem von der Baader/Meinhof-Bande begangenen Mord am damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und seinen Begleitern. Die EKD bekundete damit Mithaftung. Man habe sich durch „einseitig konfliktbetontes Verhalten“ nicht deutlich genug dem Terror entgegengesetzt.
Aber die Aussage von damals ist nicht minder aktuell, auch heute. Allerdings muss der Staat seine Stärke zeigen – indem er seine eigenen Gesetze durchsetzt, indem – zum Beispiel in Duisburg und Berlin – keine rechtsfreien Räume mehr geduldet werden, indem die Justiz Entschlossenheit zeigt. Indem allerdings (und nicht zuletzt) die Bürger den Feinden von Recht und Freiheit das Stoppschild entgegenhalten.
„Wehret den Anfängen – und bedenket das Ende“
Nein, die Situationen von damals und heute sind natürlich nicht zu vergleichen. Noch nicht. Oder vielleicht doch? Ein bisschen? Wie war das etwa mit der thüringischen neonazistischen Mörderbande mit der Abkürzung NSU, die fast zehn Jahre lang praktisch unbehelligt ihre schlimmen Taten begehen konnte. Oder was ist mit den nun schon über Jahre begangenen Brandanschlägen auf Ausländerheime, bei denen Tote und Verletzte von vornherein zumindest billigend in Kauf genommen wurden und werden?
Standen da nicht, häufig sogar applaudierend, „brave Bürger“ daneben? „Wehret den Anfängen!“, lautete die kluge Aufforderung von Ovid. Daraus, wiederum, folgt der Ratschlag: „Und bedenket das Ende“. Die Anfänge toben längst um uns. Und wie das Ende aussehen wird, hängt letztendlich von jedem Einzelnen ab.
Bayerns Erfolge
Die erste Nagelprobe steht praktisch auch schon vor der Tür mit den Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober. Vor allem die weiss-blaue Alpenrepublik bietet dabei bereits seit Monaten ein Schauspiel, bei denen der interessierte Beobachter nicht weiss, ob er lachen oder fassungslos den Kopf schütteln soll. Lassen wir zunächst einfach einmal Fakten Revue passieren: Bayern steht (mit Baden-Württemberg) seit vielen Jahren wirtschaftlich und finanziell weit vorn im Ranking der deutschen Bundesländer. Es finanziert zum Beispiel über den Länderfinanzausgleich die absolut kostenlose Kinderumsorgung in Rheinland-Pfalz. Bayern rangiert ganz oben im Bildungs- und Technologiebereich, hat die niedrigste Arbeitslosenquote und zieht deshalb Jahr für Jahr geradezu magnetartig tausende von Neubürgern an (was, logischerweise, zu grossen Problem bei der Suche nach bezahlbarem Wohnraum führt).
Die bayerische Null-Toleranz-Politik hat, selbstverständlich, nicht zu Null-Untaten geführt, aber zu Spitzen-Aufklärungsquoten im Vergleich zum Bundesdurchschnitt. Bayern musste 2015/16 die mit Abstand meisten Flüchtlinge und Asylbewerber bewältigen und hat diese Herausforderung (wieder im Vergleich) mit zahllosen freiwilligen Helfern am besten gemeistert.
Selber schlecht geredet
Das sind Pfunde, mit denen die weiss-blaue Staatsregierung eigentlich hervorragend wuchern könnte. Sollte man jedenfalls meinen. Tatsächlich aber sagen die Meinungsforscher der sieggewohnten CSU bei der Landtagswahl ein Debakel voraus. Falls nicht noch ein Wunder geschehen sollte. Nun sind demoskopisch erfragte Momentan-Stimmungen oft genug nicht deckungsgleich mit den letztendlich in die Urnen geworfenen Stimmen. Zumal, wenn rund 50 Prozent der Befragten angeben, noch unentschlossen zu sein. Trotzdem, für Bayerns Christsoziale gab es in der Regel immer nur ein Ziel – die absolute Mehrheit. Aber die jetzt wieder zu erringen, dürfte wirklich ein Ding der Unmöglichkeit sein.
Nun neigen Menschen (Politiker zumal) in misslicher Lage gern dazu, Schuldzuweisungen vorzunehmen. Was freilich die CSU und ihre Spitzenleute in den vergangenen Monaten angestellt haben, entbehrt eigentlich jeglicher Bewertung. Erst der vor aller Öffentlichkeit ausgetragene Machtkampf zwischen dem jetzigen Ministerpräsidenten Markus Söder und seinem Vorgänger Horst Seehofer. Dann dessen Klein- und Grosskrieg mit und gegen Angela Merkel, der am Ende beiden erkennbar geschadet hat.
Schliesslich die unsägliche Strategie, die supranationalistische Alternative für Deutschland (AfD) vor allem in der Migrations-Problematik und – damit zusammenhängend – auf dem Gebiet der inneren Sicherheit rechtspopulistisch auskontern zu wolle. Und das vor dem Hintergrund der ja nun wirklich vorzeigbaren landespolitischen Leistungen ... Unfassbar.
Am Ende Zersplitterung?
Im Fussball nennt man so etwas „selbst ausgespielt“. Hier und heute geht es aber nicht um Fussball, sondern um die Zukunft von Staat und Land. Sollen die Demoskopen recht behalten, dann könnten die Landtagsergebnisse von Bayern und Hessen einen Vorgeschmack auf das bringen, was danach auch dem Rest der Republik blüht – Zersplitterung statt der gewohnten politischen Stabilität. Die sich über Monate zäh hinziehenden Koalitionsverhandlungen nach den jüngsten Bundestagswahlen, das Scheitern der Bemühungen um eine so genannte schwarz-grün-gelbe „Jamaika“-Mehrheit aus CDU/CSU, Grünen und FDP, das letztendliche Gewürge um eine Fortsetzung der immer kleiner werdenden „Grossen Koalition“ aus Union und SPD – das lässt nicht nur erahnen, was auf das Land und seine Bürger zukommen könnte.
Man kann nur hoffen, dass tatsächlich jedem Wahlberechtigten klar ist, was er mit seiner Stimme bewirken kann. Am besten wären Mut- statt Wutwähler – das wäre ein Grund, den Hut zu ziehen.