Das Wort Scharia wirkt im Westen als Schreckgespenst. Im muslimischen Osten dagegen trägt es paradiesische Züge. "Himmel auf Erden" überschreibt Sadakat Kadri sein Buch (1) über die Scharia, das islamische Gottesgesetz. Es ist das Beste, was für Laien über die Scharia geschrieben wurde.
Rechtswelt, kein Kodex
Vor seinem Buch über die Scharia hat er eines über die Geschichte des Prozesswesens im Westen verfasst. Die Scharia interessiert ihn, weil er aus einer muslimischen Familie aus Indien stammt. Die Notwendigkeit, darüber aufzuklären, was der Begriff Scharia wirklich bedeutet, wurde ihm nach den Anschlägen von New York und London bewusst. Nicht nur Europäer, auch viele Muslime sind nicht in der Lage, über den Begriff einigermassen zutreffende Auskunft zu erteilen.
Es handelt sich nicht um einen Gesetzeskodex sondern um eine Rechtswelt, die nur als gesetzliches Regelwerk gebraucht werden kann, wenn man sie interpretiert. Die Grundlagen dieser Rechtswelt gelten als gottgegeben. Die zuständigen Gelehrten finden sie im Koran und in der gewaltigen Masse von Überlieferungen über Tun und Weisungen des Propheten. Die Überlieferungen wurden zwei und drei Jahrhunderte nach dem Propheten gesammelt, kritisch gesichtet und zu vielbändigen heute kanonischen Werken zusammengestellt.
Sowohl der Koran wie auch die Überlieferungssammlungen enthalten gegensätziche Aussagen, Widersprüche, und man muss sie interpretieren, wenn man Verhaltensvorschriften aus ihnen ableiten will. Zum Beispiel: Was galt in einer spezifischen Situation und passt auf eine gegenwärtig gegebene, die beurteilt werden soll? Oder: Was war damals gerechtfertigt und kann als Weisung von Gott her gelten, und trifft dies auf vergleichbare Sachverhalte aber in einer ganz anderen Zeit weiterhin zu, oder ist es zu nuancieren?
Göttliches Ideal, menschliche Wirklichkeit
Das Ideal dieser Rechtswelt ist in der Tat der "Himmel auf Erden". Das heisst eine soziale Ordnung, die ganz - oder doch immerhin so weit wie irgend möglich - dem offenbarten Willen Gottes entspricht. Doch, wie gesagt, dieser Wille ist nicht in einem Gesetzbuch niedergelegt. Er muss durch Auslegung der erwähnten geheiligten Grundlagen, Koran und Hadith (Überlieferungen), gewonnen werden.
Während 1400 Jahren und in einigen Teilen der Welt von Marokko bis nach Indonesien haben sich islamische Gottesgelehrte mit diesen Auslegungen befasst und damit ihre individuell unterschiedlichen Versuche unternommen, für ihr Hier und Jetzt die menschlichen Unvollkommenheiten so zu regeln, wie es dem mutmasslichen göttlichen Willen entspricht. Die Auslegungen sind höchst unterschiedlich ausgefallen. Je nach dem befindenden Gelehrten, nach Zeit und Ort und auch entsprechend den sozialen und politischen Standpunkten der Ausleger.
Vielfalt des Rechts
Über die Jahrhunderte hin haben sich Rechtsschulen entwickelt, die sich innerhalb der Rechtsauffassung und der Rechtsphilosophie unterschiedlicher grosser Rechtsgelehrter bewegen. Der Sunnismus kennt vier von ihnen, die heute noch aktiv sind, neben weiteren, die es in der Vergangenheit gab. Die Schiiten haben die ihrige.
Doch auch innerhalb dieser Schulen gab es und gibt es bedeutende Variationen. Es wird sie auch in der Zukunft immer geben, weil die Zeit nicht still steht, und die Gläubigen mit stets neuen Gegebenheiten konfrontiert werden. Diese fordern neue Stellungnahmen auf Grund der erwähnten "Quellen des Rechtes", ein arabischer Begriff, den man auch mit "Quellen der Wahrheit" wiedergeben kann.
Wie weit geht die Auslegung?
Wie weit man bei der rechtsfindenden Interpretation Vernunftschlüsse ziehen darf, oder wie eng man sich an den Wortlaut von Koran und Überlieferung zu halten hat, ist einer der Grundunterschiede, an denen sich diese Rechtsschulen trennen.
Sadakt Kadri lotet in einem ersten Teil seines Buches aus, wie weit sich in verschiedenen historischen Epochen die Scharia-Interpretationen unterscheiden konnten. Wobei die Auslegungen von den Umständen und Gegebenheiten verschiedener Zeiten und von den durch sie entstandenen Geistesverfassungen bedingt wurden. Dabei gilt, dass in den grossen Umrissen die kulturell fruchtbarsten Zeiten den Vernunftauslegungen am meisten förderlich waren, und auch umgekehrt, dass die Vernunftauslegungen die kulturellen Blütezeiten hervorzubringen halfen.
Die Zeiten, in denen ein Bedürfnis entsteht, sich eng an den Wortlaut der heilgen Texte zu binden, sind - wie mehrfach erwiesen - auch jene, in denen die Gemeinschaft der Muslime unter dem Zusammenbruch durch die Schläge von Fremdherrschern leidet und ihre kulturelle Fruchtbarkeit abnimmt oder ganz aufhört.
Vorkämpfer der Wortwörtlichkeit
Es gibt, stets präsent in der Geschichte des Islams, die Rufer nach wortwörtlichem Verständnis und enger, manchmal knechtischer Befolgung angeblicher Vorbilder aus der Überlieferung. Ihre Auslegungen finden viel Gehör in Zeiten der Not und der Verluste an Selbstvertrauen.
Die beiden wichtigsten solcher Epochen der äusseren und inneren Unsicherheit sind jene der Eroberungen und Zerstörungen durch die Mongolen und die des europäischen Kolonialismus mit seiner Folge, der "Globalisierung". Die Vorkämpfer von auf konstruktiver Vernunft beruhenden Auslegungen kommen zum Zuge, wenn die Zeitläufte kulturell produktiv werden und die Muslime dementsprechend selbstgewiss.
Überraschungen der Kulturgeschichte
Sadakat Kadri ist ein grosser Stilist und ein grosser Gelehrter. Er versteht es, seine Formulierungen auf Pointen zu bringen, die immer wieder überraschen. Das erlaubt ihm, so gut wie jeden Abschnitt in seinem Buch mit einem Hinweis oder Einfall zu schliessen, der den in anderen Federn ledertrockenen juristischen Stoff zum farbigen Aufleuchten bringt. Ungeahnte Blitzlichter aus der Kulturgeschichte des Islams leuchten auf in ihrer Verbindung mit der Entwicklung des islamischen Gottesrechts. Dass dieses nie stillsteht, macht der Verfasser kristallklar.
Gegenwärtige Islamauffassungen
Im zweiten mehr gegenwartsbezogenem Teil seiner Geschichte des Gottesrechts wird deutlich, dass der Islam der Gegenwart nicht uniform, jedoch in weiten und machtpolitisch oft tonangebenden Kreisen dem wörtlichen Textverständnis und der unhinterfragten Nachahmung von überlieferten Aussagen und Taten des Propheten anhängt. Um dies zu tun, müssen sich die Vorkämpfer einer engen Auslegung an ein Bild des Islams halten, das nicht aus der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Textgrundlagen hervorgeht, sondern lediglich auf ausgewählte Fragmente zurückgreift. Aus solchen herausgegriffenen Einzelteilen kann man sich natürlich Vorbilder zurechtzimmern, die den gegenwärtig vorherrschenden Neigungen und Bedürfnissen entgegenkommen.
Diese Art des gegenwärtigen Religionsverständnisses firmiert unter dem Namen des Salafismus. Salaf heisst Nachfolge und Nachahmung. Vorbilder der Nachahmung sind der Prophet und seine Gefährten, jedoch allzu oft in vereinfachter Sicht, ohne Rücksicht auf die Vielfalt und Vieldeutigkeit der Überlieferung und die immer neu wechselnden Verständnisse derselben. Die meist unbewusst getroffene Auswahl stützt sich letzten Endes auf die eigenen Vorlieben, welche ihrerseits mit den spezifischen Nöten und Zwängen der eigenen Gegenwart zusammenhängen.
"takfir"
Gerade weil es sich um ein gegenüber den eigenen religiösen Grundlagen arbiträres Vorgehen handelt, neigt der Salafismus dazu, alle anderen Religionsverständnisse zu verketzern und sein eigenes zum allein gültigen zu erklären. Dies fasst man in der Fachsprache mit dem Begriff "takfir" oder "zum Ungläubigen erklären".
"Takfir" entspricht nicht dem herkömmlichen Islamverständnis. Die nicht salafistischen Muslime nehmen an, dass Gott darüber entscheiden wird, wer gläubig war und wer ungläubig. Wenn eine Gruppe sich die Bestimmungshoheit über "Takfir" selbst zuweist, kann das schwerwiegende Folgen für ihr soziales Verhalten zeitigen.
Im besten Fall halten sich salafistische Dogmatiker fern von all jenen – das ist oftmals die grosse Mehrheit ihrer muslimischen Zeitgenossen -, die sie als "Ungläubige" einstufen. Doch im schlechtesten Falle schlagen sie diese tot oder versklaven sie, indem sie sich auf vermeintliche Vorbilder der muslimischen Frühzeit stützen.
Die Vielfalt als Reichtum
Solche Vorbilder kann man in den Grundschriften finden, wenn man sie sucht. Doch - um es einmal mehr zu wiederholen - die bis heute herkömmliche Auslegung dieser Schriften beruht auf einer Gesamtsicht relevanter Textstellen und kommt daher zu dem Schluss, dass die gewalttätigen und kriegerischen Textstellen - im Koran und seiner Überlieferung - nur unter bestimmten Voraussetzungen als Vorbilder gelten können. Diese Voraussetzungen werden dann von den Rechtsgelehrten genauer bestimmt. Wobei es zu Übereinstimmungen, aber auch zu beachtlichen Gegensätzen kommen kann. Die Vielfalt der Meinungen, sagt der traditionelle Islam, ist nicht seine Schwäche, sondern sein Reichtum.
Dies ist ein Axiom, das solange gilt, wie die Viefalt - als solche - Anerkennung geniesst und nicht durch die Ausschliesslichkeit des "Takfir" zerstört wird. - Wenn Polemiker oder Unkundige im Westen sich auf bestimmte Textstellen berufen, um "den Islam" als gewalttätig zu charakterisieren, tun sie genau das Gleiche wie die Leute des radikalen Flügels der Salafisten. Auch sie urteilen über "den Islam" auf Grund ausgewählter Textstellen, die ihre Vorurteile bestätigen.
Die Wurzeln des Salafismus
Kadri zeigt auf, dass der Salafismus im wesentlichen eine Erscheinung der Gegenwart ist. Er hat Wurzeln, die tief in die islamische Geschichte hinabreichen. Er gewann monopolartigen Einfluss auf der arabischen Halbinsel im 19. Jahrhundert, und er hat sich von dort aus über weite Bereiche der arabischen Welt ausgebreitet, indem er sich - nicht ausschiesslich, jedoch auch - auf saudische Erdölgelder abstützte.
Auf dem indischen Halbkontinent besucht Kadri die Deobandis, auch sie Salafisten, die ihrerseits im Gefolge des durch die britische Kolonialmacht überaus blutig und brutal niedergeschlagenen Aufstands der indischen muslimischen und hinduistischen Truppen von 1857 in Indien den Weg der engen Gefolgschaft vermeintlicher Vorbilder aus der islamischen Frühzeit einschlugen und ihm bis heute asketisch folgen.
Eine entgegengesetzte Tendenz gab es auch: den liberal und modern orientierten Islam von Sayid Ahmed Khan, auf dem die noch heute blühende Universtät von Alighar aufbaut. Man kann als dritte Hauptströmung den auf dem Subkontinent immer noch weit verbreiteten Volksislam nennen, der mystische Wurzeln aufweist, mystische Heilige verehrt und Verbindungsbrücken zum Hinduismus schlägt. Diese traditionelle Tendenz des Islams wird von den doktrinären Salafisten so sehr gehasst und verachtet, dass ihr radikaler, gewalttätiger "takfiri" Flügel die Heiligtümer des Volksislams mit Bomben angreift und sprengt, wo immer es ihm möglich ist.
Vom Kontinuitätsbruch zur erfundenen Tradition
Man muss Kadri zitieren, um all dies in einer seiner brillanten Formulierungen zusammenzufassen: "Jede Gesellschaft, die behauptet, sie beruhe auf Tradition, aber gleichzeitig alle wirkliche Tradition übergeht, riskiert zu vergessen, weshalb Kontinuität von Bedeutung ist, und die Idee, dass Geschichte und Politik keinerlei Bedeutung für rechtliche Entwicklungen haben, ist dabei besonders zerstörerisch."
Von den britischen Muslimen sagt er, was weitgehend für viele aller heutigen Muslime zutrifft: "Insoweit als einige von ihnen Begeisterung für ein Leben unter der Scharia zeigen, sagen sie einfach, dass sie an ein gottgefälliges Leben glauben. Einige von ihnen glauben ohne Zweifel, dass Er ihnen als Gegenleistung aushelfen wird. Doch die weit überwiegende Masse von ihnen begehrt nichts Finstereres als jene Abstracta, die schmerzlich fehlen, wo sie abwesend sind: Dinge wie Solidität, Ansehen und Würde."
(1) Sadakt Kadri: Heaven on Earth, A Journey through Sharia Islam,Vintage Books London 2012, nun auch auf deutsch: Himmel auf Erden,eine Reise durch die Länder der Scharia von den Wüsten des alten Arabien bis zu den Städten der muslimischen Moderne, Mathes&Seitz, Berlin 2014.