Nadine und Paul sind ein junges Paar mit zwei Kindern. Die Frau spürt, dass ihre Leidenschaft für den Ehemann erkaltet. Macht ein Zusammenbleiben noch Sinn? Der deutsche Regisseur Michael Fetter Nathansky (31) sucht im feinsinnigen Sozialdrama «Alle die Du bist» nach Antworten.
Im Rheinischen Braunkohlerevier. Ein freud- und farbarmes Industriegelände mit rauchenden Fabrikschloten. Nadine klopft an die Scheibe eines Pförtnerhauses. Sie ist einbestellt worden, weil sich ihr arbeitsloser Ehemann Paul plötzlich ins Untergeschoss verzogen hat. Vor Ort herrscht Aufregung, doch Nadine weiss, was los ist: Unter Stress wird Paul ab und an von Panikattacken gebeutelt. Nun, wo ein Job-Bewerbungsgespräch ansteht, ist es wieder passiert. Sie lässt sich zum Ort führen, wo sich ihr Partner aufhält, begrüsst ihn sanft mit Namen. Das Bild weitet sich. Jetzt steht die Frau im Halbdunkel vor einem schnaubenden Rind. Sie streichelt seinen Hals, lehnt ihren Kopf an sein Fell: ein überraschendes, zärtliches Bild.
«Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne» heisst es in Hermann Hesses Gedicht «Stufen». Das passt zum enigmatischen, formal wie narrativ einfühlsamen Beziehungsdrama «Alle die Du bist» des deutschen Filmautors Michael Fetter Nathansky. 1993 in Köln geboren, wuchs er im spanischen Madrid und in Deutschland auf. Er studierte Filmregie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, gewann 2017 den Deutschen Kurzfilmpreis. 2022 erlangte er als Ko-Drehbuchautor des vielgelobten Spielfilms «The Ordinaires» von Sophie Linnenbaum einige Bekanntheit. Bei «Alle die Du bist» zeichnet er für das Skript und als Regisseur.
Ein Paar im Umbruch
Nadine und Paul haben sich vor einigen Jahren kennengelernt, sind nun Eltern von zwei Töchtern im frühen Schulalter. Nadine, eine gelassene und aktive Frau, zog von Berlin Brandenburg ins Kölner Rheinland und verliebte sich, gravierenden Mentalitäts-Unterschieden zum Trotz, in den damaligen Arbeitskollegen Paul. Jetzt spürt sie, wie sie sich zunehmend von ihm entfremdet; eine suboptimale Perspektive für eine Kleinfamilie mit heranwachsenden Kindern.
Bereits das eingangs skizzierte Intro zeigt, wie sich Michael Fetter Nathansky dem in anschwellenden Beziehungsnöten steckenden Paar nähert: Kammerspielartig legt er den Fokus auf Nadine, die schwankend zwischen Emotionen und Kopflastigkeit versucht, das komplexe Wesen Pauls zu ergründen. Er erscheint ihr wie erwähnt als Rind, dann als Kind, als sehr junger Mann, als erwachsener Vater und auch als ältere Frau mit mütterlichen Zügen.
Unkonventionell feinstimmiges Erzählen
Ein so unkonventionelles Szenario könnte aufgesetzt und unrealistisch wirken. Wäre da nicht die filmisch feinfühlige Umsetzung von Michael Fetter Nathansky, der mit verfremdeten Kleinszenen in die mehrschichtige Story einführt. In einem Interview antwortete der begabte Filmemacher auf die Frage, was ihn zu seinem ungewöhnlichen Konzept inspiriert habe, mit der Gegenfrage: «Wie kann man ohne Kitsch von einer Hoffnung erzählen?» Was er damit meint, wird in «Alle die Du bist» erkennbar. Er taucht nach dem bild- und symbolstarken, verblüffenden Filmanfang mit entwaffnender Direktheit in die Konfliktsphäre des Paars ein.
Zum Beispiel in einer Szene, in der Nadine den Gatten mit der Aussage konfrontiert, dass sie ihn nicht mehr «riechen» könne. Was nicht nur auf die körperliche Nähe einer einst wohl erfüllenden erotischen Zweisamkeit bezogen ein harsches Statement ist. Später will sie von Paul ganz prosaisch wissen: «Warum liebe ich dich nicht mehr?» Da ist es wohl höchste Zeit, zu handeln.
Michael Fetter Nathansky hat ein Gespür für die charakterliche Ausgestaltung seiner Figuren. Wobei zunehmend klar wird, dass er nicht auf Resignation, Tristesse oder gar Fatalismus aus ist. Sondern dass ihm daran liegt, die heikle Gemengelage, in der sich Paul und Nadine befinden, zu entschärfen. Dabei zeigt er auch die sehr sensiblen Kinder nicht als dekorative Staffage, sondern integriert sie glaubhaft ins alltägliche Spannungsfeld der Eltern.
Das Private im Beruflichen
Interessant zudem, wie «Alle die Du bist» das spezielle berufliche Umfeld von heute, in dem das Drama angesiedelt ist, mit den Schilderungen des familiär Privaten verknotet. Schauplatz ist wie erwähnt das traditionsreiche rheinische Braunkohlerevier in der Nähe von Köln, das ab der nächsten Jahrzehntewende stillgelegt werden soll.
Klar, dass schon jetzt viele Beschäftigte existenziell von dieser wirtschaftlich-strukturellen Veränderung betroffen und in Sorge sind. Der im Arbeitsleben glücklose Paul ebenso wie die in gewerkschaftlichen Belangen couragierte Nadine sowie ihre beste Freundin Aida. Von ihr will Nadine wissen, ob sie das Gefühl kenne, jemandem gegenüberzustehen, eigenartig zu finden, was er sagt – und erst dann zu realisieren, dass es sich um den eigenen Mann handelt. Michael Fetter Nathanskys unkonventionelles Filmstück schlägt also auch einen Bogen vom Privaten ins Berufliche, weist darauf hin, wie in einer schicksalhaft verbundenen Solidargemeinschaft einiges ineinandergreift. Und zwar so präzise auf den Punkt gebracht, wie man das im deutschsprachigen Kino selten sieht.
Eingeschworenes Ensemble
«Alle die Du bist» beeindruckt mit seinem homogenen, wie aufeinander eingeschworenen anmutenden Ensemble – hinter und vor der Kamera. Darstellerisch wird es von Aenne Schwarz angeführt, die in der Rolle der Nadine hinreissend aufspielt. Eine Künstlerin, die vor allem auch auf der Bühne für Aufsehen sorgt: Bis 2020 gehörte sie zur Stammformation des legendären Wiener Burgtheaters, danach war sie am Basler Theater engagiert. Die männliche Hauptrolle, Paul, gestaltet Carlo Ljubek; auch er ein enorm wandlungsfähiger Charakterdarsteller, der schon an den renommierten Münchner Kammerspielen oder am Schauspielhaus Hamburg arbeitete.
Sehr überzeugend ist auch die elegante Kamera-Arbeit des international erfahrenen Jan Mayntz, der an den oft abgedunkelten Schauplätzen für magische Einstellungen sorgt, die durch surrend ächzende Industriegeräusche wie verwunschen akzentuiert werden. Musikalisch setzt man in «Alle die Du bist» auf diskreten Instrumentalsound und einige Songperlen – etwa von der Berliner Garage-Rock-Band Chuckamuck mit der programmatischen Ballade «Und die Erde wird der schönste Platz im All».
Ein Arthouse-Filmbijou
«Alle die Du bist» ist ein Arthouse-Filmbijou. Auch darum, weil durchgehend klar ist, dass dem Regisseur der Sinn nie nach oberlehrerhaft gekünsteltem Erklärenwollen um jeden Preis steht. Sondern nach einer szenischen Choreografie in einnehmendem Rhythmus auf diversen Zeitebenen, die seine Figuren greif- und begreifbar macht. Obwohl das alles andere als einfach ist, weil hier die klassischste aller Lebensfragen verhandelt wird: Was ist das, was Liebe meint?
Wunderbar, wie Michael Fetter Nathansky zum Finale seinem Duo in Nöten, Nadine und Paul, einen Ausweg aus dem trüben Tal der fast schon verdorrten Gefühle anbietet – wie bei einem unerwarteten Blick aus einem Fenster ins lichte Hoffnungsvolle.
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