Der „New York Times“-Kolumnist Roger Cohen hat dieser Tage über einen Besuch bei dem grossen israelischen Schriftsteller Amos Oz berichtet. Das Gespräch kam auch auf die im März fälligen Parlamentswahlen in Israel. Oz nannte den amtierenden Ministerpräsidenten Netanyahu einen Feigling, der seit neun Jahren regiere und keine einzige kontroverse Entscheidung getroffen habe, die die unumgängliche Zweistaatenlösung für den Palästina-Konflikt einer Verwirklichung näher bringen könnte. Fast alle grossen politischen Führer seien jedoch bei historischen Entscheidungen von Teilen des eigenen Volkes als Verräter gebrandmarkt worden, argumentiert Oz – Abraham Lincoln, de Gaulle, Gorbatschow, Begin, Sadat, Rabin.
Gibt es aktuelle Beispiele unter amtierenden Staatslenkern, die den Mut aufbringen, um eines als richtig erkannten Zieles willen auch mal gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen? Putin hatte ursprünglich im Sinn, Russland zu einem modernen, wirtschaftlich attraktiven Staatswesen zu entwickeln. Doch als die Schwierigkeiten auf diesem Weg grösser wurden, fiel er zurück in alte, autoritäre Verhaltensmuster: interne Repression und nationalistische Expansion. Obama fand immerhin die Kraft, gegen schärfste Wiederstände eine seit langem fällige Reform des US-Gesundheitswesens durchzuziehen. Bei der versprochenen Aufhebung des unwürdigen Gefangenenlagers Guántanamo aber lässt der Beweis echten Durchsetzungswillens noch immer auf sich warten.
Auch für führende Schweizer Politiker gäbe es im laufenden Wahljahr Möglichkeiten, sich mit Mut und gegen den gängigen Mainstream für zukunftsfähige Visionen zu exponieren. Zum Beispiel durch ein klares Bekenntnis zur Bereitschaft, historische Kompromisse mit der EU einzugehen. Und auf Anbiederungen bei überheblichen, heimattümelnden Anti-Europäern zu verzichten.